Скрипториум Авентурис

21. Kapitel

Die erdrückende Umklammerung des Bären schnürte Starna die Luft ab. Für einen Moment hielt sie inne. Dann verwandelte sie ihren Geistkörper. Die Starna des Nivaleiken zerschmolz in die Seelenform einer Wölfin mit bernsteinfarbenem Fell.

Wütend brüllte der Bär auf, als sie seinem Griff entglitt. Er schlug die Pranken zusammen, in der Hoffnung, sie doch noch zu erwischen. Aber kaum berührten Starnas Pfoten den Wolkenboden, da sprang sie auch schon davon.

Ein letztes Mal hieb Taarjuk mit der Tatze nach Starna. Sie zuckte zusammen, als drei der scharfen Krallen durch ihr Fleisch fuhren und ein Stück aus ihr herausrissen.

Sie blutete. Für einen Herzschlag schwanden ihr die Sinne. Panik überwältigte sie, als sie spürte, dass sie etwas verloren hatte. Doch es blieb keine Zeit, um es zurückzugewinnen. Angst. Flucht. Sie rappelte sich auf und rannte weiter.

Der Schatten des Bären wuchs gigantisch an, quoll über die Ebene, schnell wie ein Tropfen Tran im Wasser. Taarjuk grollte lauter als der Donner Er hatte sie fast umzingelt -doch dann ließ sie sich einfach fallen. Sie glitt durch die Wolken und verschmolz mit sich selbst.

Ihr Seelenleib fand den Körper und schlüpfte hinein. Aber weil sie in Wolfsgestalt war, nahm auch ihr Leib diese Form an. Die Wölfin hetzte los. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war ein tödlicher Verfolger.

Sie eilte über die Ebene, bis ihre Flanken bebten. Doch da sie keinen Feind mehr witterte, erlosch ihre Angst nach einer Weile. Sie roch die Fährten, die vom feuchten Boden aufstiegen. Die kühle Nachtluft erfrischte sie, aber etwas war anders als sonst. Sie selbst.

Die Wölfin spürte einen harten Klumpen Traurigkeit in ihrer Seele, an den sie nicht rühren wollte. Sie fürchtete den Schmerz, der damit verbunden war. Denn auch, wenn sie das Wissen darüber verloren hatte, so ahnten ihre Gefühle doch die Wahrheit. Es wäre qualvoll, sich zu erinnern. Sie zögerte, diesen Weg zu ihrem verlorenen Selbst zu beschreiten.

Was sie jetzt wünschte, war ein Lauf. Die rötliche Wölfin gehorchte dem unbändigen Drang, alles hinter sich zurückzulassen. Auf den Flügeln des Nachtwindes preschte sie über die Steppe, setzte über Kaninchenlöcher und Gruben hinweg. Sie vergaß, warum sie hier war. Sie war einfach.

Und sie erfreute sich an den vielfältigen Düften der Nacht. An dem weichen Mondlicht, das dem Tundragras einen zauberhaften Schimmer verlieh und ein zartes Spinngewebe aus Schatten über die Welt breitete. Die ungeliebten Erinnerungen verblassten. Sie wusste nicht einmal, dass es da etwas gab, an das sie nicht rühren wollte.

Ungläubig starrte Rikkinen auf das Wolfsjunge.

Er wollte den Welpen anfassen, sich durch die Berührung überzeugen, dass Goldglanz nicht bloß ein Traumgebilde war. Dann traf ihn ein Gedanke wie ein Hammerschlag: Der Dieb, den Starna und er wochenlang verfolgt hatten. War niemand anderer als der fremde Schamane!

Rikkinen blickte von dem Käfig auf den Mann und zurück. Er musste der Dieb sein, Pevyk kam dafür kaum in Frage. Der machte nicht den Eindruck, einen so raffinierten Diebstahl durchführen zu können. Andererseits - Pevyk hatte ihn auch in der Stadt überrumpelt.

Unverwandt blickte Goldglanz ihn an. Rikkinen musste schlucken, so sehr erinnerten ihn die angstvollen Augen des Welpen an Kerjuk auf dem Krankenlager. Er konnte dem Blick nicht standhalten und schaute weg. Kerjuks fiebriges, eingefallenes Gesicht spukte durch Rikkinens Gedanken und er biss die Zähne zusammen.

»Du wirkst nicht wie ein Mann, der sein Ziel erreicht hat!« Der Schamane musterte ihn voll unausgesprochener Erwartung.

Soll ich jetzt um mein Lehen betteln oder die Herausgabe des Wolfes fordern? Ärger kochte in Rikkinen hoch. »Warum hast du den Welpen gestohlen? Aus welchem Grund hältst du mich gefangen. Mann ohne Namen?«

Wieder entblößte der Schamane die Zähne. »Eine gute Frage von jemandem, der im Schatten der Himmelswölfe lebt. Eigentlich dachte ich, einer wie du könnte verstehen, wie verblendet die Verehrung des göttlichen Rudels ist.«

Rikkinen zuckte zusammen. Wie Brandzeichen sengten sich die Worte in sein Bewusstsein. Was war das für ein Schamane? »Was weißt du von mir. Namenloser?«, drängte er und vergaß jede Vorsicht. Es war ein inneres Verlangen, das weit über Neugier hinausging.

»Du kannst mich Taarjuk-Nuk nennen, Rikkinen. Dieser Name ist wohl angemessen. Und was deine letzte Frage angeht, so weiß ich nicht mehr und nicht weniger als jeder, der Handlinien deuten kann.« Die Lippen des Fremden verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen.

Taarjuk-Nuk, das bedeutete Bärenmann. Einen solchen Namen hatte Rikkinen noch nie gehört. Er war bestimmt kein Wolfssprecher. Ein Diener der Himmelswölfe hätte seinen Namen kaum dem unbeherrschten Bärengeist entlehnt. Aber niemand außer einem Schamanen beherrschte die Kunst des Handlesens.

Rikkinen spürte es wieder, dieses Gefühl: berauschend, Furcht einflößend? Er konnte es weder benennen, noch das sehnsüchtige Ziehen von der Gänsehaut trennen. Er wusste nur, dass er endlich die Wahrheit erfahren wollte!

Flehen und sich erniedrigen würde er aber nicht. Ein kluger Jäger legte seine Schlingen aus, statt dem Wild hinterherzuhetzen.

Rikkinen beherrschte sich mühsam. Nur sein vorgeschobener Kiefer verriet seine Ungeduld. »Wenn es da etwas Geheimnisvolles zu erkennen gäbe, dann hätte ich davon sicher schon erfahren. Der Schamane unseres Stammes...« Mein Vater, dachte Rikkinen und schluckte. Niemals hätte er ...

Damit brachte Rikkinen sein Gegenüber sichtlich aus dem Konzept. Taarjuk-Nuk beugte sich vor, kniff zweifelnd die Augen zusammen. Aber dann straffte sich die dunkle Gestalt.

»Du hast keine Ahnung! Du weißt es wirklich nicht«, murmelte er überrascht. Seine Züge entspannten sich und er deutete eine leichte Verbeugung an, wie es die Jänak taten, wenn sie einander begrüßten.

»In diesem Fall ist es mir eine große Ehre, dir deinen Vorfahren vorzustellen, Rikkinen. Schließlich haben wir gemeinsame Feinde!«

Taarjuk-Nuk zog etwas aus seinem Schurz, eine gebogene Kralle, länger als ein Finger. Durch die Art, wie das karge Licht darauf spielte, erkannte Rikkinen, dass die krumme Außenseite zu einer Schneide geschliffen war.

Rikkinen biss die Zähne zusammen. Wenn der Bärenmann ihn jetzt zu seinen Ahnen schickte, dann würde Rikkinen nicht als winselnder Feigling sterben.

»Pevyk, komm her.«

Wieselflink huschte der Gerufene herbei.

»Achte auf ihn.«

Blut rauschte in Rikkinens Ohren. Er nahm die Worte von Taarjuk-Nuk gedämpft wie durch eine Felldecke wahr. Rikkinen fühlte das Gewicht von Pevyks breiten Händen auf seinen Schultern wie Pranken, aber er kämpfte stolz darum, nicht zusammenzuzucken.

Der Bärenmann beugte sich geschmeidig vor und führte die Klinge hinter Rikkinens Rücken. Jeden Moment erwartete Rikkinen den Tod. Er betete, seit Monaten das erste Mal. Liska, steh mir bei.

Dann glitten seine Arme vor, schlaff, ohne Gefühl. Taarjuk-Nuk hatte ihn losgeschnitten. Danke.

Rikkinen krampfte die Hände zusammen und dehnte die schmerzenden Schultern. Seine Arme kribbelten.

Zuerst Pevyk abschütteln und einen Kopfstoß in den weichen Bauch des Bärenmannes ...

»Pevyk!«, rief Taarjuk-Nuk misstrauisch.

Der bullige lyamit lehnte sich mit dem ganzen Körpergewicht auf Rikkinen und presste ihn gegen den Stein. Rikkinen wand sich fort und versuchte, seitlich auszubrechen. Er wollte den Ellbogen nach hinten reißen, aber die tauben Gliedmaßen gehorchten nicht.

Pevyk drückte ihn brutal nach unten, bis Rikkinen kaum noch Luft bekam. Sein Rücken wollte schier durchbrechen!

Taarjuk-Nuk umfasste mit roher Kraft Rikkinens Handgelenke und zerquetschte ihm beinahe die Hände. Seine Stärke war übermenschlich. Weiße Flocken tanzten vor Rikkinens Augen, sein Widerstand erlahmte. Pevyk zog Rikkinens rechte Hand nach hinten. Er keuchte, als der Schmerz im Schultergelenk wieder aufbrandete. Dann erst ließ Pevyk ihn wieder aus dem Klammergriff, und Rikkinen konnte sich halbwegs in eine aufrechte Lage bringen.

Daraufhin drehte Taarjuk-Nuk die linke Hand Rikkinens mit der Fläche nach oben. »Dann wollen wir uns das mal genauer betrachten«, sagte er gönnerhaft.

Diesmal brauchte der Bärenmann Pevyk keine ausdrückliche Anweisung zu geben. Der lauerte geduckt und sprungbereit über dem Gefangenen.

Rikkinen schrak zusammen, als der dunkle Mann wieder sein Krallenmesser hervorholte. Doch auch diesmal blieb er unverletzt. Sachte fuhr Taarjuk-Nuk einige Linien in Rikkinens Hand nach. »Hier haben wir den Finger des Herzens.«

Er knickte den Finger ein, sodass er sich über die Handfläche faltete. »Die Spitze des oberen Glieds deckt genau den Zeltbogen ab.«

Der Bärenmann drehte die Hand mehr zum Licht. Die grausam scharfe Spitze des Dolches strich über die Haut, ohne sie zu schneiden. Trotzdem stellten sich Rikkinens Haare auf. Er hatte Angst davor, was Taarjuk-Nuk enthüllte. Verzweifelt wünschte er, er hätte nie gefragt. Sein Kopf dröhnte wie eine Trommel. Die kalte Messerspitze glitt eine weitere Furche entlang.

»Das hier ist die Linie deines Vaters. Sie führt direkt zum Ahnenberg. Und siehst du, am Ahnenberg steht die Fährte des Schneehuhns. Der Ahnenfinger darüber trägt im oberen Fingerglied das wirbelnde Madamal. Wenn du die Faust ballst, steht das Madamal über dem Ahnenberg. So muss es sein.«

Was bedeutet das alles? Rikkinen vergaß für einen Augenblick zu atmen, weil er eine Antwort erwartete. Dann fiel ihm erst auf, dass die Worte seine Kehle nie verlassen hatten.

Unbeirrt sprach Taarjuk-Nuk weiter und deutete die Linien seiner Hand. »Und hier ist die zweite Spur. Der Strahl der Mutter.

Schau genau hin, Rikkinen. Dann wirst du sehen, dass sich der Strahl der Mutter mit der Wurfschlinge kreuzt und auch in den Ahnenberg ragt. Das ist selten, sehr selten. Ich habe es nie zuvor gesehen.«

Trotz der kühlen Abendluft spürte Rikkinen, wie ihm der Schweiß über das Gesicht rann. Für einen Moment rang er mit sich, dann konnte er die Spannung nicht länger ertragen. Stolz hin oder her. »Sag mir, was du siehst.«

Seine Stimme brach.

Plötzlich tauchten sie wieder vor ihm auf – die vergessenen Gesichter, in das Licht- und Schattenspiel einer tanzenden Flamme gehüllt. Große, verzerrte Gestalten, so wie Erwachsene einem Kind eben erscheinen. Rikkinen erin-nerte sich an lange verstummte Wortfetzen, unbeendete Sätze und geraunte Versprechen. An Blicke, die ihn maßen. Wenn man glaubte, er würde es nicht bemerken.

Rikkinens Sein hing an den Lippen dieses Mannes.

Taarjuk-Nuk blickte von der Hand auf und Rikkinen geradewegs in die Seele. »Es bedeutet, dass du ein direkter Nachfahre Madas bist, des Sohnes der Hirtin Vae. Gleich von zwei Ahnenlinien her fließt Madas Blut in dir.«

In Rikkinen schrie es auf. Das ist unmöglich. Und dann kam die Gewissheit: Alle haben es gewusst!

Unbändiger Hass brodelte hervor und machte sich Luft. Am liebsten hätte er die Welt mit einem einzigen Schlag zerschmettert.

Pevyk missdeutete Rikkinens Zittern als Fluchtversuch und stürzte sich sofort auf ihn. Durch den unerwarteten Angriff kippte Rikkinen zur Seite und schlug auf dem Boden auf. Der Schmerz an den Rippen sprengte schier seinen Brustkorb.

Er fühlte, wie man seine Hände vor dem Körper fesselte. Die gezerrten Rückenmuskeln protestierten.

»Lass ihn!« Taarjuk-Nuk scheuchte Pevyk fort. »Hol jetzt den Trank herbei. Bald wird der Mond den Scheitelpunkt erreicht haben, und dann beginnt es.«

Nekaar überließ Rikkinen sich selbst und begab sich zu dem Stein, an dem er seine Ausrüstung niedergelegt hatte. Er kniete sich hin und schloss die Augen.

Taarjuk, ich bin zurück, flüsterte er

»Du warst niemals fort«, antwortete der Bärengeist in ihm. »Wie die Bahn der Sonne am Abend endet und am Morgen weiterläuft, so bist auch du hierher zurückgekehrt. Zuerst in deinen Gedanken und nun in deinem Fleisch.«

»Ja, und ich habe dich mitgenommen. In die Ferne und nun wieder zurück.«

Es war lange her, dass Taarjuk zu ihm gesprochen hatte. Auf Nekaars Reisen war der Bärengeist ein stiller Begleiter gewesen, in seinem Bewusstsein zu einer Kugel zusammengerollt wie ein Bär im Winterschlaf. Aber als er in seine Heimat zurückkehrte, da erwachte auch Taarjuk.

Nekaar schlug das große Bündel auf, das bis vor kurzem noch versteckt in der ehemaligen Bärenhöhle gelegen hatte. Sein Schamanengewand, die Trommel und die anderen Dinge, die zu wertvoll waren, um sie auf seinen Reisen mit Danja Notjes Bande mitzuführen.

Nekaar strich über den weichen, dichten Bärenpelz, in den seine magischen Hilfsmittel eingeschlagen gewesen waren. »Ich danke dir für das Geschenk, Taarjuk! Pevyk soll der Erste meines Stammes sein.«

»Er ist eine Willkommensgabe, Bärenmann«, brummte Taarjuk. »Sein Geist war verwirrt und leicht zu beeinflussen, Mann-des-Bären.« Es klang, als würde sich Taarjuk den Klang der Worte auf der Zunge zergehen lassen wie eine überquellende Honigwabe.

»Dir gefällt also mein neuer Name«, stellte Nekaar fest. »Ich werde ihn dir zu Ehren von heute an tragen. Obwohl Madas Spross ihn kennt.«

»Er ist kein Schamane. Wie soll er deinen Namen gegen dich verwenden? Außerdem ist sein Schicksal doch besiegelt. Es mag sein, dass deine Tat die Aufmerksamkeit der Himmelswölfe erweckt. Und dann ist es besser, wenn eine andere Hand als die deine die Klinge führt.«

Schweigend senkte Nekaar den Kopf. Taarjuk wusste alles, denn er lebte in ihm.

Aber Nekaar sehnte sich nicht nur nach Taarjuks Gegenwart. Er wünschte sich eine Familie, eine Sippe, der er im Namen des Bärengeistes vorstehen konnte. Für die er die heiligen Tänze aufführen und die Zukunft deuten konnte. Als Schamane. Die Tamani-Lie hatten ihn verstoßen. Dafür hatte er zusammen mit den Pelzjägern zwei Winter lang unter den Wölfen des Nordlandes gewütet. Und zu den ersten Wölfen, die Nekaar nackt, mit abgezogenem Fell, den Aasfressern überließ, gehörte das verbündete Rudel seines Stammes. Sie waren seiner Rache zum Opfer gefallen, stellvertretend für die Himmelswölfe, die ihm mit der einen Hand alle Talente geschenkt hatten und ihm mit der anderen doch das eine nahmen, das ihn zum Wolfssprecher befähigt hätte.

Er hatte gehofft, unter Danja Notjes Leuten eine neue Sippe zu finden. Aber die Pelzjäger waren nicht von seinem Blut. In ihnen sang weder der Winterwind der Taiga noch die Brise in den Birken während des Frühjahrs. Es waren Fremde, die keinen Schamanen brauchten. Die bornländi-sche Bande sah in ihm nur einen nützlichen Helfer, der wie ein Kasknuk in höchster Not die Wölfe herbeirief, damit sie über die Tiere herfallen konnten.

Die Jänak gaben ihm Gold für seine Dienste. Aber eine neue Sippe konnte man nicht kaufen. Und auch, wenn Nekaar ihre Lebensart kennen lernte, ihre Zunge sprach und ihre Speisen kostete, so wurde er keiner von ihnen und die Jänak blieben fremd.

Aber ab heute würde es anders sein. Er hatte Danja Notjes und die Männer ihrem Schicksal überlassen, um den goldenen Wolf zu retten. Denn mit seiner Hilfe würde er sich eine neue Sippe formen.

»Schon bald!«, bestätigte Taarjuk. »Es war gut, dass du die Geschichte der verfluchten Stadt ein letztes Mal erzählt hast. Denn bald sollst du eine andere Geschichte erzählen.«

»Als Schamane Taarjuk-Nuk werde ich meiner neuen Sippe die Geschichte ihrer Erweckung singen.«

Bei dem Sturm auf die Stadt am Frisund waren nicht nur Jänak gestorben. Unter den Toten befanden sich auch Nivesen. Häuser waren verbrannt und zusammengestürzt. Und die Lieska-Leddu hatten nicht alle der Ihren bergen können. Körper und Knochen der Nivesen waren zwar zu Asche verbrannt oder zu Staub geworden. Ohne Leitung eines Schamanen konnten sie aber den Weg in die Ewiggrüne Ebene nicht finden. Die Geister der unbestatteten Nivesen spukten zusammen mit denen der Jänak.

Taarjuk hatte ihm all das verraten, und hier sah Nekaar seine Gelegenheit.

Damit der Fluch über die Jahre wirksam blieb, musste er mit Billigung der Himmelswölfe gesprochen worden sein. Und durch die Mitwirkung des göttlichen Rudels würde er nun auch wieder gebrochen werden. Liska selbst würde dafür sorgen.

Rikkinen lag verkrümmt auf dem Boden. Er ballte die linke Hand zur Faust. In seinem Inneren hatte sich eine gewaltige Kluft aufgetan, und giftiger Brodem stieg daraus empor.

Sein Vater wusste, dass er von Mada abstammte, und hatte ihm nichts von den Zeichen verraten. Klein und unscheinbar, nur ein paar Linien auf seiner Hand. Aber mit diesen Linien war Rikkinens Schicksal unauslöschlich in seine Haut gekerbt.

Seine Gedanken wirbelten durcheinander

Jetzt verstand Rikkinen die scheelen Blicke, die seine Jugend begleitet hatten.

Die meisten Hekkla hatten wohl versucht, ihn normal zu behandeln. Kirugi, die Älteste und Heilkundige, war bei seiner Untersuchung sogar immer besonders sorgfältig gewesen. Aber das Wissen darüber, wer er war, musste wie ein Schild zwischen Rikkinen und der Sippe gestanden haben. Auch wenn er den Grund dafür nicht begriff, so hatte der Junge die gezwungenen Versuche, freundlich zu sein, oft genug durchschaut. Er fühlte, dass mit ihm etwas anders war. Auch wenn es unausgesprochen blieb, trug er einen Makel.

Und die anderen Kinder mit ihren feinen Sinnen spürten die Ablehnung der Erwachsenen und machten sie sich zu Eigen. Und ich habe immer geglaubt, sie wären eifersüchtig, weil ich der Sohn des Schamanen bin!

Abgesehen von den betont freundlichen Männern und Frauen gab es noch einige, die ihm mit gleichgültiger Kälte begegneten. So wie Jasu. Darum wollte er nichts von mir wissen!, erkannte Rikkinen.

Er dachte daran, wie er als Halbwüchsiger versucht hatte, die Freundschaft des älteren Jägers zu erringen und ihn auf die Pirsch zu begleiten. Doch Jasu hatte seine Versuche ins Leere laufen lassen, bis Rikkinen schließlich aufgab. Sogar die eigenen Eltern hatten ihn lieber ausgesetzt, als ihn aufzuziehen.

Rikkinen wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er stieß einen Laut aus, der beides gleichzeitig war. Endlich verstand er die Befindlichkeiten der Sippe, bei der er aufgewachsen war.

Scharf sog er die Luft ein. Alle Fragen waren mit der einen Antwort abgegolten. Die Ablehnung der Menschen, sein unterkühltes Verhältnis zu den Wölfen. All das musste er erleiden, weil er von dem verfluchten Mada abstammte. Niemals hatte er eine Chance gehabt, Rikkinen zu sein. Immer war er nur Madas Abkömmling gewesen. Sein Leben war verpfuscht, noch ehe er den ersten eigenen Schritt getan hatte.

Rikkinen zerrte die Fäuste auseinander, um seiner Wut einen Kanal zu schaffen. Er zitterte vor unterdrückten Schluchzern. Jede Bewegung ließ die Schmerzen in seinem Brustkorb stärker auflodern. Die zerschundenen Handgelenke schienen in Flammen zu stehen, doch Rikkinen kämpfte weiter gegen die Fesseln an, die das Schicksal ihm auferlegt hatte.

Vielleicht würde der eine Schmerz den anderen überdecken. Vielleicht würde Erschöpfung die Enttäuschung aus seiner Seele tilgen.

Ein Schatten fiel auf ihn.

»Du musst durstig sein«, sagte Pevyk mit einem Becher in der Hand. »Hier, ich habe dir etwas Tee gebracht.«

Rikkinen kam mit einiger Mühe in eine hockende Stellung. Er war schier ausgetrocknet. Immer noch hatte er den fauligen Geschmack im Mund, mit dem er aufgewacht war.

Pevyk setzte das Gefäß an Rikkinens Lippen. Im Becher befand sich tatsächlich Tee. Er konnte es riechen. Doch zwischen dem Kräuterduft stieg ein seltsam bitterer Geruch auf.

Rikkinen verzog das Gesicht.

Aber wider besseren Wissens öffnete er den Mund. Sein Elend konnte nicht noch schlimmer werden.

»Trink jetzt! Es sind Kräuter von Starna.« Pevyk vergrub eine Hand in Rikkinens Haaren. Er zog ihm den Kopf nach hinten und schüttete die Flüssigkeit zwischen seine Lippen. Als Rikkinen den ersten Schluck kostete, hätte er ihn am liebsten wieder ausgespuckt. Er versuchte, die Zähne zusammenzubeißen und den Kopf von dem Gefäß wegzudrehen. Pevyk aber neigte den Becher so schnell, dass der drogenversetzte Tee Rikkinens Schlund hinabströmte und er mit Schlucken kaum nachkam. Der Sud drang in seine Nase und hinterließ ein pelziges Gefühl.

Zufrieden beobachtete Pevyk, wie Rikkinen gezwungenermaßen den letzten Rest Tee hinunterschluckte. Dann wandte er sich ab.

Das Mittel wirkte fast augenblicklich. Rikkinen spürte, wie ihn eine lähmende Müdigkeit überkam. Aber gleichzeitig rebellierte sein gebeutelter Magen gegen den bitteren Trank. Mit einer schwachen Neigung des Kopfes erbrach Rikkinen den Tee.

Seine Lider wurden zentnerschwer und er fühlte sich schlapp. Wie ein hilfloses Kind schob er sich ein Stückchen von der säuerlichen Pfütze fort, die schnell im Boden versickerte. Pevyk und Taarjuk-Nuk waren weiter hinten beschäftigt. Rikkinen hörte ihre Stimmen, während er langsam wegdämmerte.

»Du bringst ihn jetzt her, damit ich den Kreis ziehen kann!«, sagte Taarjuk-Nuk. Rikkinen fühlte, wie er über den Boden geschleift wurde. Wieder die Stimme des Schamanen: »Binde ihn an, dann werde ich alles Weitere erledigen. Sobald du die Trommel hörst, verschwinde außer Sichtweite und pass auf, dass wir keinen ungebetenen Besuch bekommen. Und halte dich vom Nebel fern, Pevyk. Wenn du erst einmal eingedrungen bist, kann dich keiner ... «

Rikkinen lag ausgestreckt auf dem Rücken, fühlte Berührungen, etwas Weiches fuhr über seine Haut und hinterließ eine klebrige Spur.

Dann erlag er der verlockenden Umarmung des Schlafes.