7. Kapitel
Starna schlug die Zeltklappe zurück und betrat die Jurte des Schamanen. Zwei Körper lagen ausgestreckt am Boden, ein Jüngling und ein alter Mann. Die beiden Kranken waren mit einigem Abstand voneinander auf weiche Felllager gebettet. Obwohl Starna ihn nur einmal vor Jahren gesehen hatte, erkannte sie Rejko Himmelsschweif sofort.
Zwischen den Männern kniete jemand, wohl die Heilerin der Sippe. Sie warf Starna einen Blick zu. »Komm herein, Schamanin. Ich bin Kirugi, die Älteste der Hekkla.«
Starna stellte sich vor und trat auf einen Wink der Ältesten an Rejkos Lagerstatt. »Was ist mit ihm?«, fragte sie und hockte sich auf den Boden.
»So liegt er seit dem halben Nachmittag. Ich habe ihn untersucht, habe scharfe Kräuteressenzen unter seine Nase gehalten, aber er wacht nicht aus diesem seltsamen Schlaf auf.« Die Heilerin wackelte mit dem Kopf und faltete die Hände vor dem Bauch. Ihre Finger waren verkrümmt wie trockene Dornenranken.
Vorsichtig drehte Starna Rejkos Kopf zur Seite und suchte nach einer Verletzung, die der Ältesten vielleicht entgangen war. Sie tastete nach seinem Herzschlag.
Kirugi schob den Kopf wie ein angriffslustiger Schneedachs vor. »Spar dir die Mühe, Schamanin. Ich habe schon nach einem Grund für seinen Zustand gesucht.«
Starna verbiss sich eine Antwort, doch ihre Finger glitten weiterhin über Rejkos reglosen Leib. »Erzähl doch bitte weiter. Ich stimme mich dabei auf Rejkos Geist ein.«
Kirugi kniff die Augen zusammen. »Du möchtest eine Geistheilung durchführen?«
»Ich weiß es noch nicht, Älteste.« Langsam verlor Starna die Geduld. Waren die Hekkla alle so misstrauisch, dass sie jedes Wort und jede Tat von ihr anzweifelten, nur weil sie nicht zu ihrer Sippe gehörte? So gelassen wie möglich wandte sich Starna an die Heilerin. »Du kannst mir die Entscheidung erleichtern, wenn du mir alles erzählst, was du weißt. Ich bin sicher, es gibt eine Menge, was du schon herausgefunden hast.«
Die alte Frau wirkte versöhnt. »Er reagiert auf kein Wort. Aber bewusstlos ist Rejko nicht, sein Herz schlägt sogar schneller als sonst, als würde er sich anstrengen. Ich konnte kein Fieber feststellen, aber seine Stirn ist leicht feucht. Sieh dir die Augen an.«
Kirugi zog vorsichtig die Lider des Schamanen auf. Die Pupillen waren gut zu sehen, nicht nach innen gedreht. Der Blick wirkte klar, wenn auch ziellos.
»Da!«, rief Kirugi.
Starna hatte es bemerkt. Die Pupille von Rejko wurde groß, schloss sich dann wieder.
»So geht das bereits seit Stunden.«
Starna war ratlos. Solch ein Leiden hatte sie noch nie gesehen. Wie sollte sie die Krankheitsgeister austreiben, ohne deren Namen zu kennen?
»Was ist mit diesem Lanan, der auch dabei war?«, fragte sie in der Hoffnung auf weitere Hinweise.
Kirugi stieß ihren spitzen Finger in die Luft und deutete auf den anderen Kranken. »Sieh selbst.«
Starna runzelte die Stirn. »Ich habe gehört, dass es einen Kampf zwischen den beiden gab. Ist es nicht riskant, sie gemeinsam in eine Jurte zu legen?«
Kirugi wackelte wieder mit dem Kopf. »Wir wollten die beiden Kranken so wenig wie möglich bewegen, damit ihre Seelen den Weg zurück in die Körper finden.«
Jetzt nickte Starna. »Eine gute Idee.«
Lanan lag da, als schliefe er. Am Kopfende seiner Lagerstatt brannte eine Tranlampe. In ihrem unsteten Licht erblickte Starna dunkle Handabdrücke um Lanans Hals. Sein Kopf war mit einem dicken Verband umwickelt. Das Gesieht darunter, seltsam kindlich, war bleich, sogar für einen Nivesen gegen Ende des Winters.
Der rechte Arm von Lanan lag angewinkelt auf der Brust, auch er steckte in einem Verband. Hatte er sich mit dem Arm gegen einen Angriff geschützt?
Kirugi unterbrach Starnas Beobachtungen: »Der kann dir nicht antworten. Aber ich sage dir gerne, was ich weiß. Der Schamane hatte sich zum Ritual mit Lanan in seine Jurte zurückgezogen. Lanan trank einen Kräutersud, der ihn betäubte und es dem Ahnengeist erleichtern sollte, in seinen Körper zu fahren. Rejko wollte nämlich Eki, den Vater des Hirten, beschwören und nach dem goldenen Welpen befragen.
Ich kannte Eki gut. Er war ein friedlicher Mann und stets bereit, für den Stamm einzutreten, auch wenn es mehr Arbeit oder eine zusätzliche Nachtwache bei der Herde bedeutete. Sein Geist muss freundlich und hilfsbereit gewesen sein ...«
Starna lief in der Stille ein Schauder über den Rücken, wie eine Vorahnung von Unheil. »Aber?«, presste sie hervor.
»Jaiää!«, klagte die alte Frau. Ihre Augen wurden riesengroß. »Man hörte den Gesang des Schamanen, der seine Reise antritt. Wir vernahmen die Trommel. Und dann kamen die Schreie.«
»Welche Schreie?« Starna griff unwillkürlich nach dem dürren Arm der alten Heilerin, denn Kirugi wankte für einen Moment.
»Es waren schreckliche Schreie. Lanan brüllte, danach heulte er wie ein wildes Tier. Zwei Herzschläge lang war es totenstill, dann hörten wir die Stimme des Schamanen, einen Ruf zwischen Weinen und Lachen.
Tinjat rannte zum Zelt und riss die Klappe auf. So ein dummer Junge! Er sollte wirklich wissen, dass man die Rituale des Schamanen nicht einfach stört. Wo er doch selbst...« Kirugi brach ab. Einen Moment später hatte sie sich wieder gefasst und berichtete weiter. »Schmerzens-schreie gellten aus der Jurte durch das Dorf und verstummten jäh. Als ich endlich dazukam, sah ich, wie der Schamane mit Tinjat rang. Er fasste nach seiner Kehle. Rejko wollte den Jungen erwürgen, als sei Taarjuk, der wilde Bärengeist, über ihn gekommen. Dann aber stürzte Rejko wie von einem Schlag getroffen zusammen und erhob sich nicht mehr. Und nun habe ich hier zwei Bewusstlose und einen Jungen, der vor Sorge halb verrückt ist. Er wollte sich nicht einmal richtig von mir untersuchen lassen.«
»Tinjat wurde also angegriffen«, sagte Starna. »Darüber hat er kein Wort verloren. Der Junge hat mir kaum das Zelt gezeigt und ist gleich wieder verschwunden. Dabei würde ich ihm gerne einige Fragen stellen.«
Die Heilerin seufzte. »Tinjat macht sich Vorwürfe, dass er so unüberlegt gehandelt hat. Er gibt sich die Schuld an dem Unglück- er will doch einmal Rejkos Nachfolger werden! Bestimmt hat sich Tinjat aus Scham irgendwo verkrochen. Aber eine alte Frau wie ich kennt ihre Kälbchen. Ich gehe ihn suchen, wenn du in der Zwischenzeit auf die beiden Kranken Acht gibst.«
Sie erhob sich und hinkte hinaus. Starna wurde den Gedanken nicht los, dass Kirugi die Flucht vor zwei Kranken antrat, denen ihre Kunst nicht helfen konnte.
Nachdem sie zuvor nur Augen für die Kranken gehabt hatte, blickte sich Starna nun in der fremden Schamanenjurte um. Das Zelt war deutlich größer als ihres, aber ebenfalls mit glatten Lederdecken ausgelegt, die man einfach ausschütteln konnte.
Unzählige Bilder bedeckten die Wände, in Spiralen und Reihen angeordnete Zeugen der Stammesgeschichte. Die Zeichnungen waren schon verblasst, einige Symbole ließen sich vor Flecken und Überschneidungen kaum noch erkennen. Die Jurte von Starnas Lehrmeisterin hatte ähnlich ausgesehen. Starna biss sich auf die Lippen.
Kirugi hielt Wort, was Tinjat betraf. Nach kurzer Zeit schob sie den Jungen in die zum Krankenzelt umgestaltete Jurte des Schamanen. Als er auf Kirugis Geheiß den Anau-rak auszog, sah Starna einige Blutergüsse auf der Brust des Jungen und Quetschspuren um seinen Hals. Kein Wunder, dass er Probleme mit dem Sprechen hatte.
Aber seine erste Frage galt Lanan und dem Schamanen. »Kannst du den bösen Geist austreiben?«
Starna fasste nach seiner Hand und drückte sie. »Ich will ihnen gerne helfen, Tinjat. Vielleicht möchtest du mich dabei unterstützen?«
»Wie soll ich helfen?« Tinjat riss sich los und barg das Gesicht in den Händen. Seine Stimme klang immer noch rau und angespannt.
»Erzähl mir einfach alles, woran du dich noch erinnerst. Und gib mir wieder die Hand, damit ich deine Seele spüren kann«, bat Starna.
Tinjat riss sich sichtlich zusammen. Er nickte.
Kirugi reichte ihm einen dampfenden Becher. Er trank etwas Tee und schluckte mühsam. Mit heiserer Stimme erzählte er: »Ich war drüben, wo sich die Jäger ausruhten. Dann hörte ich Lanan schreien, und auch den Schamanen. Lanan ist mein Vetter. Aber als ich Rejkos Jurte erreicht hatte, war es schon... Da lag Lanan ohne Verstand auf dem Boden und blutete. Rejko beugte sich über ihn und hatte die Hände an seinem Hals.«
Tinjat stockte. Er sah elend genug aus, um sich auf der Stelle neben die Verletzten zu legen.
Starna überlegte. Um den Rat der Ahnen zu erlangen, beschwor man einen direkten Vorfahren in den Körper seines Blutsverwandten. Der Schamane begab sich zuvor auf die Reise ins Totenreich, um dort den Geist zu wecken. Wenn Tinjat das Ritual im kritischen Moment gestört hatte, dann bestand die Gefahr, dass Rejko den Kontakt zu seinem Seelenkörper verloren hatte. Das brachte ihn in große Gefahr. Zweifellos hatte Tinjat überstürzt gehandelt. Doch Vorwürfe würden sie bei dem verwirrten Jungen nicht weiterbringen.
»Ich bin sicher, du wolltest nur helfen«, beschwichtigte sie ihn. »Aber was geschah dann? Hast du noch mehr gesehen? Den Ahnen? Eine bläuliche, schimmernde Gestalt wie aus Gletschereis?«
»Da war nichts«, versicherte ihr der Junge. »Ich habe nur Lanan gesehen und den Schamanen. Rejkos Augen starrten mich an, als wolle er mich verschlingen. Dann sprang er hoch, auf mich zu und hat mich ebenfalls gewürgt. Ich habe ihn fortgestoßen und daraufhin ist Rejko einfach umgekippt.
O ihr Himmelswölfe, ich habe unseren Schamanen fast getötet. Und ich habe Lanan in Gefahr gebracht, als ich das Ritual gestört habe.« Er presste die freie Hand auf die Brust seines älteren Cousins. Tränen glitzerten in seinen Augen.
Starna wollte den Verzweifelten trösten: »Kirugi hat gesehen, dass du dich nur gegen Rejko verteidigt hast. Es muss etwas geschehen sein, das mit dem Ritual zu tun hat.«
»Rejko ist ein alter Mann!«, stotterte Tinjat. »Und Lanan ist der Kräftigste hier im Dorf. Wie kann der Kasknuk ihm ...?«
Das fragte sich Starna auch.
Tinjats Hand hatte bei der ganzen Erzählung kein einziges Mal gezuckt. Sie war kühl geblieben, wie die eines Menschen, der die Wahrheit spricht.
Starna glaubte nicht, dass Tinjats Eingreifen Lanan geschadet hatte. Wie es aussah, hatte der Junge ihn vielleicht sogar gerettet. Aber was war mit Rejko geschehen? Irrte der Seelenleib Rejkos fernab des Körpers umher? Hatte der Ahngeist Eki Besitz von ihm ergriffen?
Starna brauchte Gewissheit. Sie traf eine Entscheidung.
»Ich habe keine Zeit, um auf die Genesung Lanans zu warten«, erklärte Starna der Ältesten und dem Lahti. Außer den beiden Stammesführern war nur noch Tinjat in der Jurte des Anführers anwesend.
»Ich möchte so rasch wie möglich die Hilfe der Geister anrufen und versuchen, etwas über Rejkos Leiden herauszufinden.« Starna wandte sich jetzt an den Jungen.
»Ich brauche jemanden, der mir bei den Vorbereitungen zur Hand geht. Tinjat, komm bitte mit in die Jurte des Schamanen. Dort kannst du mir auch den Wolfsnamen des Schamanen verraten.«
Den Stammesführern war es recht so. Der Junge stolperte beinahe über die eigenen Füße, als er Starna hinausfolgte. In seinem Eifer erinnerte er Starna an einen tapsigen jungen Wolf.
Tinjat wusste eine Menge über Rejko und die Pflichten des Schamanen. Er konnte nützlich sein. Und eine Aufgabe würde ihn von seinen Grübeleien und Schuldgefühlen ablenken.
Nachdem man Lanan vorsichtig in ein anderes Zelt getragen hatte und die Vorkehrungen für das Ritual abgeschlossen waren, schickte Starna den Jungen fort. In der Trance würde die Anwesenheit eines Dritten nur stören.
Locker aus dem Handgelenk streute Starna um sich und den reglosen Rejko einen Kreis aus farbiger Erde und Kräutern auf den Boden. Die Hilfsgeister der zerstoßenen Kräuter würden schädliche Einflüsse abwehren. Starna prüfte, ob der Schutzkreis vollständig war, damit keine Gefahr von außen sie oder Rejko noch stören konnte. Sie nahm Rejkos Schamanentrommel vom Pfosten und legte ihre Stirn gegen die Trommelhaut.
»Du wirst mich zu Rejko führen!«, befahl sie der Trommel, dann ließ sie sich am Fußende des Schamanen nieder.
Rejko war immer noch in sein farbenprächtig besticktes Ritualgewand gehüllt, seine schneefarbenen Haare lagen in zwei Strängen seitlich der Schläfen. Starna hatte Rejko seine Schamanenkeule auf die Brust gelegt.
Sorgfältig berührte sie jedes ihrer Amulette. Einige der Talismane stammten noch von Yassi. Er hatte sie damals gegen seine letzten Geldmünzen eingetauscht, in der Hoffnung auf Heilung von dem Fluch.
Eigentlich behielten die Nivesen keine Erinnerungsstücke an ihre Verstorbenen zurück. Aber Yassi war kein Nivese gewesen, und dies waren keine Erinnerungsstücke. Es waren Talismane, die in der Zeit, als Yassi sie getragen hatte, ein Stück seiner Essenz aufgenommen hatten. Außerdem mochte eine geheime Kraft der Jänak-Götter in ihnen stecken. Und im Augenblick war Starna für jede Hilfe dankbar.
Nachdem sie die Amulette vor ihrer Brust geordnet hatte, griff sie zur Trommel. Sie rückte das Instrument zurecht und tastete mit der Hand über das von der häufigen Benutzung schon glatte Leder der Trommelhaut. Das Instrument von Rejko war etwas bauchiger als ihre eigene Trommel, und der Klang war tiefer. Sie spürte jeden Ton im Magen.
»Heya Trommel, sei mein Boot, heya, sei mein Flügel«, sang sie leise.
Starna schloss die Augen und spürte, immer noch leise summend, in die Trommel hinein. Das Instrument war unzählige Male in dieser Jurte geschlagen worden. Es war fast ein Stück von Rejkos Seele. Starna glaubte die Echos von Rejkos Essenz in der Trommel zu spüren. Etwas davon hing in den bemalten Zeltwänden, wie eine Melodie, die sich an Zweigen bricht, oder Trommelklang, der im Eis festfriert.
Die junge Schamanin hob die Nase wie ein Wolf, der Witterung aufnimmt. Ihre Hände glitten über die Trommel, als suchten sie etwas - und so war es auch. Die Finger suchten den rechten Rhythmus, einen Klang, der für die Suche angemessen war.
Starna stellte sich den alten Rejko vor, und sacht klopften ihre Knöchel vereinzelt auf die Trommel. Sie dachte daran, wie der Welpe verschwunden war und wurde schneller - doch dann bremste sie sich wieder. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Der Welpe war nun Rikkinens Aufgabe.
Starna trommelte und versank in den dumpfen Schlägen, bis der alte Schamane plötzlich vor ihrem geistigen Auge auftauchte. Rejko Himmelsschweif stand aufrecht da, die weißen Haare umflatterten sein runzeliges Gesicht, der Kasknuk hielt die Knochenkeule locker in der Armbeuge. Doch noch waberte seine Gestalt unstet, wie ein Traumbild.
Starnas Hände streichelten über die Trommel und fanden allmählich zu der richtigen Schlagfolge. Es fühlte sich angemessen an. Das war Rejkos Rhythmus, das Klopfen seines dahineilenden Herzens. Sein Abbild verfestigte sich, sie roch sogar den Geruch seiner Kräutersalbe.
Starna fühlte, wie ihre Sinne weit wurden, wie ihr inneres Auge in die Nähe seiner Seele gelangte. In der weiten Landschaft ihrer Trance stand Rejko auf einem Hügel, einsam wie ein Stein. Starnas Seele eilte zu ihm, um ins Innere der windumtosten Gestalt einzutauchen.
Doch noch am Fuß des Hügels prallte sie gegen eine unsichtbare Sperre. Hitze baute sich in ihr auf und entzündete sich mit einem Schlag wie ein Feuer.
Starna schrie, der Rhythmus setzte aus und sie war zurück in der Gegenwart der Jurte. Sie fühlte sich heiß und verschwitzt. Schmerzen bissen in ihren Eingeweiden, als seien sie innerlich verbrannt.
Eine üble Kraft hatte Starna weggestoßen. Jene fremde Gegenwart, die Rejko immer noch umgab. So wie sie Starna verwundet hatte, fraß sie auch an Rejkos Seele. Der Schamane der Hekkla war ein Gefangener im eigenen Körper.
Als Starna aus der Jurte des Schamanen trat, kam ihr die Heilerin bereits ungeduldig entgegen, Tinjat im Schlepptau. »Weißt du nun, was mit Rejko geschehen ist?«, fragte die Älteste.
»Ja«, sagte Starna. »Aber jetzt muss ich viele Vorbereitungen treffen, und es bleibt kaum Zeit.«
Die Älteste erschrak. »Ist es so ernst?«
Starna schüttelte wiegend den Kopf, wie immer, wenn sie nicht ganz sicher war, was sie sagen sollte. »Wenn ich etwas für Rejko tun kann, dann muss ich es heute noch tun.«
Unaufgefordert mischte sich Tinjat ein. »Du willst Rejko geistheilen?«
Jetzt schüttelte Starna entschieden den Kopf. »Rejko ist nicht krank. Ihm fehlt nichts. Aber man könnte sagen, er hat etwas zu viel. Ich glaube, euer Schamane ist besessen.«
Der Erfolg der Geisteraustreibung hing an der sinkenden Sonne. Starna musste beginnen, ehe das gelbe Auge den Horizont berührte, und damit fertig sein, ehe die Sonne erneut aufging.
Sie hatte aus zweierlei Gründen beschlossen, das Ritual in der Schwitzhütte abzuhalten. Die Hütte lag ein Stück abseits, halb im Wald. Zum einen würde Starna dort ihre Ruhe haben und zum anderen waren die Hekkla geschützt, falls es Probleme gab oder Rejko aufwachte, ehe der böse Geist aus ihm verjagt worden war. Während sie die letzten Ingredienzien sammelte, räucherte Tinjat die Schwitzhütte aus, um den Ort zu reinigen. Er war sichtlich stolz über diese Aufgabe.
Die Jurten warfen bereits lange Schatten über das Lager, als Starna endlich alle Kräuter, das Räucherwerk und die anderen Gegenstände für das Ritual zusammengetragen hatte. Sie bediente sich aus den Beständen des Schamanen. Rejko würde es verstehen. Obwohl Starnas Ausrüstung einige Bannpulver und Kräuterelixiere enthielt, war sie nicht auf alle Rituale eingerichtet.
Ehe es dunkel wurde, schöpfte Starna noch ein wenig Atem und prüfte ein letztes Mal, ob sie alles beisammen hatte.
»Hier!« Kirugi schob Starna eine Holzschale mit einigen braunen Kugeln zu.
»Danke, nein«, wehrte Starna ab. »Ich brauche keine Lockspeise für die Geister.«
»Das ist nicht für die Geister, sondern für dich. Du brauchst etwas in den Magen, Schamanin. Karen-Kötel sind eine Spezialität meiner Sippe. Du kannst sie schnell nebenher essen.«
»Was?«, fragte Starna ungläubig »Das ist...?«
Tinjat gluckste. Es war das erste Mal, dass Starna ihn fröhlich sah. »Sie heißen nur so«, erklärte er. »Karen-Kötel bestehen aus zerkleinertem Fleisch, Fett und gewürfelten Kvill-Zwiebeln.«
Eine richtige Pause zum Essen konnte Starna nicht einlegen, aber sie wusste, dass sie in der kommenden Nacht ihre ganze Kraft brauchen würde. Und während des Rituals musste sie natürlich streng fasten.
Starna betrachtete die dunklen Fleischbällchen skeptisch, doch dann siegte ihr Appetit. Kaum hatte sie einen der gewürzten ›Kötel‹ in den Mund gesteckt, da knurrte ihr Magen mit Vehemenz und sie griff noch einmal zu. Die Schärfe der Zwiebeln ließ ihr das Wasser in die Augen treten.
Sie beschloss, ihren Leuten dieses Rezept zu empfehlen.
Kurze Zeit später verteilte Starna Tranlampen und Gefäße im Zelt. Es war zunehmender Mond, deswegen begann Starna den Lichtkreis zu ihrer Linken. An der Wand platzierte sie Schalen mit Sand und Harztröpfchen, die sie anzünden würde, sobald die Dunkelheit hereinbrach.
Sie hing Rejkos Windklappern von innen an das Dach der Hütte. Die zwischen Knochen gefädelten Glöckchen sollten die heilsamen Gabetaj aus Rejkos Jurte herbeirufen, damit sie ihm hier beistanden. Wenn sie Glück hatte, ließ sich auch die Pirtinaj davon anlocken, das Geistwesen, das in Rejkos Jurte hauste.
Die Jäger hatten Rejko auf einer Decke hergetragen. Inzwischen war er bis auf das Schamtuch ausgezogen. Starna bemalte ihn mit den überlieferten Zeichen. Während ihre Finger über die warme Haut des Schamanen glitten und die Salbe verteilten, sprach Starna leise erste Schutzformeln.
Je weiter ihre Arbeit gedieh, desto ruhiger wurde sie. Es war noch ausreichend Zeit bis zum Sonnenuntergang. Das Ritual dauerte vom Anbruch der Nacht bis zum neuen Morgen, die Kraft der sinkenden Sonne und des aufsteigenden Mondes würden ihre Arbeit erleichtern. Das Ma-damal sollte den bösen Geist an sich binden und ihn mit sich fortziehen.
Nachdem Rejko vorbereitet war, legte auch Starna ihre Obergewänder ab. Sie rieb die heilige Salbe auf ihre Stirn, in die Mitte des blauen Spiralmusters, das dort ihre Haut zierte. Rasch spürte sie, wie die Haut taub wurde und eine Kälte von der Stirn ausgehend durch ihren Kopf zog.
Die junge Schamanin erhob sich zu einem letzten prüfenden Blick und spähte nach draußen. Die Sonne berührte beinahe den Boden. Es wurde Zeit.
Mit einer Zange nahm Starna glühende Kohlestücke aus dem Ofen der Schwitzhütte und legte sie einzeln in die Feuerschalen. Darüber streute sie unter leisen Anrufungen der Geister den Heiligen Rauch, eine besondere Pflanzenmischung. Sie entzündete die Lampen längst der Zeltwand und nahm zwei von ihnen mit in den Kreis. Dazu steckte sie eine wohlriechende Bienenwachskerze an. Starna griff in den Beutel mit dem Farben- und Kräutergemisch. Behutsam streute sie das Pulver in einem dünnen Strahl auf den Boden und vollendete den Schutzkreis um Rejko.
Sie selbst hatte sich in den äußeren Kreis begeben und schloss nun auch diesen. Alles, was sie brauchte, lag griffbereit.
Starna nahm den Salbentiegel hoch, schnupperte andächtig an der heiligen Mischung und verteilte dann den Rest der Mixtur auf den Innenflächen ihrer Arme und auf ihrer Brust. Dort, wo ihr Kopf vorhin noch kühl geworden war, prickelte es nun und eine leichte Wärme breitete sich aus. Der aromatische Rauch aus den Feuerschalen stieg zum Dach der Hütte, sank ein Stück herab und kroch in ihre Nase. Die Flammen der Lampen schlugen hoch, fettiger Qualm flutete über den Boden wie Nebel über der herbstlichen Tundra.
Starna hockte sich mit verschränkten Beinen hin und klemmte ihre Trommel zwischen die Knie. Von irgendwo weit her erklang der Ruf eines Wolfes. Sie nahm dies als gutes Omen und begann das Ritual.
Inzwischen glühte ihr ganzer Leib. In ihrem Inneren vibrierte Starnas Geistkörper und wartete darauf, endlich freigelassen zu werden. Starna neigte den Kopf und hob die Arme in einer bittenden Geste empor. »O ihr Himmelswölfe. Ich bitte um euren Beistand und Segen für diesen Schamanen. Er ist Rejko, ihr Himmelswölfe kennt ihn unter dem Namen Hrriko.« Das letzte Wort klang wie ein lang gezogenes Wolfsknurren.
Nach dem Gebet schlug Starna die Trommel in dem bereits vertrauten Rhythmus von Rejkos Seele. Inzwischen war ihr die Klangfolge in Fleisch und Blut übergegangen. Ihr Kopf nickte, ihr ganzer Leib schwang im Pochen der Trommel. Sie schaukelte vor und zurück, als sei sie selbst der Schlegel und die Hütte eine riesige Trommel.
Vor ihren Augen zogen sich Schatten zusammen. Der heilige Rauch und der Qualm der blakenden Lampen wirbelten umeinander und drehten sich in einer endlosen Spirale.
Starna zwinkerte. In diesem Moment ging ihr innerer Blick auf und sie trieb auf einer Rauchwolke wie in einem langsam dahinplätschernden Fluss gen Himmel aus dem Zelt hinaus.
Von oben betrachtet, schmiegten sich die Zelte der Hekkla aneinander wie Trost suchende Tiere. Sie wurden kleiner und kleiner, Erdbuckel auf einer mondbeschienenen Lichtung in der finsteren Umklammerung des Waldes.
Fast hatte die Schamanin die Ebene der Geister erklommen, da nahm sie am Rande ihres Bewusstseins eine Bewegung wahr Es war nicht allein die Nacht, die das Lager der Hekkla verdunkelte. Eine unheimliche Präsenz ging um, schnüffelte, suchte nach ihr. Starna spürte ein Pulsieren, das aus der Tiefe kam. Ein böser Geist?
Vielleicht war es der wütende Ahnengeist, den Rejko beschworen hatte. War Eki erzürnt, weil jemand bei der Totenverbrennung seine Seele nicht ausreichend geehrt hatte?
»Ich bin Starna, die Schamanin der lyamit«, rief sie. »Womit soll ich dich versöhnen, Ahnengeist?«
In der Stille schlug ihr Herz laut wie eine Trommel und untermalte dann ein rasch heftiger werdendes Geräusch - Rejkos Herzschlag.
Wie ein Raubvogel über der Tundra stieß Starna durch die Zeltwände hinab und hinein in Rejkos Körper. Sie schnappte nach Luft. Da war sie wieder, die brennende Gegenwart des Unbekannten.
Zwei runde braune Augen starrten sie an - wild und ungezügelt. Der heiße Atem des Geistwesens schlug Starna entgegen. Sie hörte ein Brüllen und spürte ein stilles Ringen. Es war, als belauerten sich zwei Säbelzahntiger und tauschten Schläge aus. Starna spürte deutlich die unge-zähmte Präsenz des Fremden. Er ging auf zwei Beinen, er schlug mit zwei Armen.
Wer hielt den Schamanen gefangen?
»Eki, ich befehle dir, Rejkos Körper sofort zu verlassen und ins Reich des Todes zurückzukehren.« Die Nennung seines Namens sollte den Geist zumindest für einen Moment ablenken und seine Aufmerksamkeit vom Opfer abziehen.
Doch der Kampf tobte unvermindert weiter
Es war nicht der friedliche Hirte, der Rejko bedrängte.
Bei dem Gedanken an den dunklen Schatten rings um das Lager der Hekkla wurde Starnas Magen zu Wasser. Sie hatte es mit einem ganz anderen Gegner zu tun. Dies war nicht der wütende Geist eines Ahnen, der Kontrolle über Rejko erlangt hatte. Es war etwas viel Gefährlicheres.
Starna trommelte jetzt für Rejko, damit seine Seele Kraft gewann. Und sie rief Verstärkung herbei.
»Bitte, ihr Himmelswölfe helft! Gewährt mir Schutz und leiht mir eure scharfen Augen, damit ich meinen Gegner erkennen kann«, flehte Starna. Um diesen bösen Geist zu besiegen, war sie alleine zu schwach.
Er war so machtvoll, dass Rejko, der erfahrene Schamane, ihn seit Stunden erfolglos bekämpfte.
Sie musste Rejko beistehen. Doch wenn sie sich einmal in den Kampf einmischte, dann mochte es sein, dass sie selbst für immer darin gefangen blieb.
Starna schwindelte es. Wieder befand sie sich auf der offenen Ebene mit dem Hügel, auf dem Rejko wie eingefroren stand. Ein Schatten umgab ihn: zwei Arme, zwei Beine und ein Kopf. Und doch nicht menschlich.
Hier an dieser Stelle beim Hügel war sie beim ersten Male zurückgeschleudert worden. Angst wollte sich ihrer bemächtigen, doch Starna setzte ihre Hoffnung dagegen. Diesmal war sie vorbereitet, sie hatte viele Pflanzengeister dabei und ihre Trommel. Sie rührte die Trommel, während sie dem bösen Wesen befahl, zurückzuweichen. Leicht tanzten die Gabetaj um sie herum, wie Löwenzahnsamen im Sommer.
Jeder Schlag des Instrumentes dröhnte und krachte gegen die Absperrung. Obwohl Starna die Mauer nicht sah, spürte sie, wie sie nachgab. Bumm! Bumm! - Rejkos Herz schlug in dem Takt, den Starna trommelte.
»Verschwinde Geist, ehe ich dein Inneres erreiche und dich aus diesem Körper vertreibe, den du dir angeeignet hast!«
Wenn sie nur den Namen des Geistes wüsste!
Mit dem Klang der Trommel drängte Starna die erzitternde Mauer ein Stück zurück und weiter und weiter. Langsam, mühsam.
Stundenlang, so schien es, schlug sie jetzt schon die Trommelhaut. Ihre Arme waren so schwer, als hätte sie die Mauer mit eigenen Händen fortgeschoben. Sie hatte Rejko inzwischen fast erreicht, doch noch war der fremde Geist nicht bereit, zu weichen.
Entkräftet ließ Starna die Trommel sinken. Sie nahm die Knochenkeule in die zitternden Hände, schob sie als Hebel unter die Mauer und versuchte, die Absperrung etwas anzuheben, damit Rejko hindurchschlüpfen konnte.
Aber die Sperre glitt zäh wie Honig zurück.
Starna schmetterte die Schamanenkeule gegen die unheimliche Wand. Doch ihre Arme waren zu schwach vom Trommeln, sie kam dagegen nicht an.
Da geschah es! Sie war zu nah an die Mauer getreten. Die eigentümliche Substanz sprang über, hüllte ihre Hände und Füße ein. Vor der Keule selbst schrak die zähe Flüssigkeit zurück, doch sie lief weiter Starnas Arme und Beine hoch.
Die Panik überflutete Starna noch schneller als dieser Schleim. Sollte sie bei der Verteidigung eines Fremden sterben, fern von ihrer Sippe?
Schon schwappte der sämige Honig längs der Arme über Starnas Brust bis hoch an ihre Kehle. Sie kämpfte dagegen an und führte die Keule über den Oberkörper, denn in der Nähe der Knochenkeule kroch die klebrige Masse zu Flecken zusammen und stockte. Aber Starna konnte die Keule unmöglich überall zugleich einsetzen.
Ihr wurde die Kehle eng. Sie erinnerte sich an die Blicke des seltsamen Augenpaars. Braune Augen, eine kräftige Gestalt auf zwei Beinen. Es war kein Mensch gewesen, es war kein Wolf. Aber ein Bär! Inmitten des wütenden Kampfes um sie herum begriff sie, wen sie vor sich hatte. Und dass nur einer ihr noch helfen konnte. Der Schleim erreichte ihr Kinn, berührte ihre Lippen. »Yassi«, schrie sie, so lange sie noch konnte.
Dunkle Haare sprossen aus Starnas Haut. Ihre Hände wurden zu Klauen mit scharfen Krallen. Das war der Geist Taarjuks, der von ihr Besitz ergreifen wollte und dessen ungezügelte Kraft sie zerreißen konnte. Taarjuk drang in sie ein und schon spürte Starna, wie die Bewegungen ihrer Arme runder wurden, wie sie täppisch mit den Beinen auf dem Boden stapfte. Die Gabetaj flüchteten vor ihr.
Sie spürte schon Taarjuks Gedanken. Wie schön wäre es, wenn sie sich ihm anschloss und sie gemeinsam an Rejkos Seele fraßen. Süßer als frischer Honig wäre diese Speise. Gewaltige Kraft statt schwacher Menschenarme und keine Verantwortung, sondern Freiheit.
Doch zwischen den Bärenkiefern quollen blutige Bläschen hervor und rot glänzten die Krallen des Bären.
»Yassi, komm zu mir.«
Starna rief mit aller verbliebenen Kraft. Ihre Stimme brach. Doch der Geisterwolf erschien nicht. Hatten sich die Himmelswölfe von ihr abgewendet?
Die Schamanin suchte ihren Helfer über der weiten Ebene. Aber keine Spur von Yassis dunklem Fell, kein Ton seiner Stimme. Starna wurde es warm und wärmer, fast erstickte sie unter dem dicken Bärenfell, das jetzt ihren Körper bedeckte. Die Keule fiel zu Boden, denn die groben Klauen des Bären konnten sie nicht mehr halten. Der Sturm heulte auf, und bei diesem Klagelaut kam Starna der rettende Gedanke. Sie spuckte auf ihre Rechte, und die Pranke verwandelte sich wieder in eine Menschenhand.
Starna riss die Knochenflöte von ihrem Gürtel und setzte das Instrument an die Lippen. Dann spielte sie das Winterlied, eine langsame, klagende Weise, die wie der Eiswind über der Tundra pfiff und dahinschwebte wie Flocken im Schnee. Im Winter ruhte das Leben, und auch viele Tiere schliefen. Es wurde merklich kühler.
Die ersten Flocken blieben auf Starnas Bärenfell liegen und sie bedeckten auch den seltsam verzerrten Bärenschatten, der sich um Rejko gebildet hatte.
Die Mauer schmolz vor der Melodie des Winters dahin. Starna übertrat die letzte Schwelle und forderte den Feind heraus. Hin und her lief der Bär und verhinderte, dass Starna dem Schamanen zu nahe kam. Aber sein Schritt wurde träge.
Sie blies beharrlich weiter die Flöte und wich seinen langsamer werdenden Bewegungen aus. Schnee häufte sich auf Taarjuks Pelz, bedeckte seinen Leib und der Bär schlief ein. Mit jeder Schneeflocke, die Starnas Haut berührte, verschwand auch der Bärenpelz um sie herum. Die Gabetaj kamen erneut herangeflogen und wirbelten in funkelnden, grünen Lichtspiralen um ihren Kopf. Sie steckte die Flöte zurück in den Gürtel.
Vorsichtig trat Starnas Geistkörper auf den Schamanen zu. Sie nahm Rejko, der immer noch erstarrt dastand, bei der Hand und wollte ihn beiseite führen. Doch in diesem Moment erwachte der Bär wieder und brüllte.
Er schlug mit den Pranken nach ihr, und Starna konnte seinem wütenden Angriff kaum entgehen. Einige Gabetaj stürzten zerfetzt zu Boden. Doch dann hieb der Bär plötzlich zur anderen Seite aus und schlug nach einem weiteren Angreifer.
Starna erblickte das dunkle Fell von Yassi gegen den gleißenden Schnee. Der Geisterwolf war gekommen! Wie ein schwarzer Blitz fuhr er gegen die Flanke des Bären. Taarjuk wehrte sich. Mit einem kräftigen Schlag verletzte er den Wolf an der Schulter. Blut tropfte in den Schnee. Yassis Blut. In Starna stieg eine nie gekannte Wut empor. In diesem Augenblick war es ihr egal, ob das die Wut des Bären war, die ihren Leib vielleicht immer noch erfüllte. Sie richtete sich drohend auf.
Nicht noch einmal würde sie zulassen, dass sich Yassi für sie opferte.
Sie war Starna. Sie hatte ihr Volk gerettet, sie war groß. Größer als Taarjuk. Mit ihrem ganzen Willen befahl die Schamanin dem Bärengeist zu verschwinden.
Da zerfloss das Untier wie ein Schneehaufen in der Sonne. An seiner statt lag da ein gehäuteter Wolfskörper Die weiße Ebene lief von allen Seiten voller Blut. Tote Wölfe, so weit das Auge reichte.
Starna blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Sie sah Yassi, der am Ende der Ebene versuchte, mit ihr zu sprechen. Immer weiter wurde er von einer purpurnen Flut weggeschwemmt.
»Starna, pass auf! Es gibt noch ...«, rief er.
Dann hatte das Blut auch sie erreicht und schwappte über sie hinweg. Starna griff nach Rejko, um ihn nicht zu verlieren. Der metallische Blutgeruch hüllte sie ein, nahm ihr den Atem. Im selben Moment fand sie sich schweißüberströmt auf dem Boden der Hütte wieder.
Der Kampf war noch nicht vorüber. In der Mitte des Kreises bäumte sich Rejko auf, als litte er schreckliche Schmerzen. Immer noch verfügte Starna über den Geisterblick, denn sie sah im Licht der letzten Lampe, wie sich ein gigantischer Schatten über dem Schamanen hin- und herbewegte. Ein Bärenschatten. Starna keuchte. Sie war erschöpft vom stundenlangen Kampf, und nun stand ihr das Schwerste noch bevor. Dabei versuchte sie vergeblich, das schreckliche Bild aus ihren Gedanken zu vertreiben: die blutbefleckte Ebene voller toter Wölfe.
Rejko stöhnte und schlug um sich.
Starna bemerkte, dass ein feiner Seelenfaden sie immer noch mit dem alten Schamanen verband. Sie legte die Knochenkeule wie eine Brücke über die beiden Schutzkreise hinweg. Dann zog sie am Seelenfaden, um Rejkos Seele mit zu sich zu nehmen. Doch der böse Geist war schneller auf der Keule. Sein Schatten zog sich klein und schmal zusammen, nicht größer als eine Bärentatze, und huschte geschwind wie ein Wiesel darüber.
»Dummer Bär!« Starna drehte die Keule, fing den Schatten zwischen Boden und Knochen und schlug flink zu.
Sie hatte sich als Opfer angeboten, damit der Bärengeist den alten Schamanen verließ und zu ihr kam. Kaum war der Bärengeist vom Schlag niedergestreckt, da lag Rejkos Leib wieder ruhig da.
Doch Starna zitterte haltlos. Sie hatte kaum noch Kraft, um die Keule zu halten, geschweige denn, ein weiteres Mal zuzuschlagen. Wenn der Gegner vor ihr zu Kräften kam, dann würde sie ihn nicht zurückschicken können, sondern wäre ihm ausgeliefert.
Starna war zu erschöpft für einen weiteren Kampf. Nur die Macht ihrer Schamanenkeule hielt den Geist noch im Bann. Keckernd umkreisten die Gabetaj den niedergerungenen Bärengeist, und Starna verscheuchte sie mit einer halbherzigen Geste wie lästige Fliegen.
Es gab noch eine Möglichkeit. Starna hatte das Wesen ihres Gegners gesehen, die rohe, ungezügelte Wildheit des Bären. Sie kannte seinen Namen!
Starna öffnete ein leeres Kräutergefäß. »Taarjuk, hinein!«
Widerstrebend, doch vom Geist der Schamanin und der Macht ihrer Keule gezwungen, kroch Taarjuk in das fingerlange Tonröhrchen. Eilig setzte Starna einen Pfropfen hinein und tunkte das Fläschchen kopfunter in flüssiges Bienenwachs. Bei nächster Gelegenheit würde sie den Tiegel tief im Wald vergraben und den Geist so unschädlich machen.
Sie hatte es geschafft. Als wäre die letzte Faser eines geflochtenen Seiles gerissen, überrollte Starna endgültig eine große Müdigkeit. Aber ihre Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Es war falsch, was sie hier erlebte.
Wenn jemand einen Bären tötete, ging dessen Geist auf ihn über. Der Bärengeist wich erst nach Tagen vom Jäger, und während dieser Zeit musste er sich besonders bedächtig verhalten. Aber nie zuvor hatte Starna gehört, dass Taarjuk die Seele eines Schamanen gefangen nehmen konnte.
Wo war der Geist hergekommen, und wieso hatte er Rejko angegriffen?
Während Starna die steifen Glieder rührte und sich Schweiß und Farbreste von der Stirn wischte, sah sie die erste Regung von Rejko. Der Schamane stützte sich auf den Arm und schaute sie verwundert an.
»Die Himmelsgeister seien mit dir, Rejko«, begrüßte sie ihn. »Ich bin Starna von den lyamit. Du hast mich gerufen.«