19. Kapitel
Als sie am nächsten Tag weiter der Fährte folgten, schloss sich ihnen Surg so selbstverständlich an, als wäre er nie fort gewesen. Rikkinen seufzte. Er hatte gehofft, der Goblin wäre inzwischen verschwunden. Der Rotpelz schleppte ein Bündel über der Schulter mit, das er zuvor nicht dabeigehabt hatte.
Rikkinen mochte den geschwätzigen Surg nicht danach fragen, aber er hörte es in dem Sack metallisch klirren. Seine Lippen verzogen sich zu einem verschwörerischen Grinsen. So ein Dieb war gleich viel weniger lästig, wenn er bei den anderen klaute.
Im Gehen dehnte Rikkinen die Schultermuskeln. Er hatte wie ein Stein geschlafen, aber Starna war anscheinend die ganze Nacht wach geblieben. Sie traute den fremdländischen Schürfern so wenig wie er. Er hatte sie mit verschränkten Beinen dasitzen sehen, als er zwischendurch mal aufgewacht war. Sie hatte ihre Kräutervorräte geprüft.
Heute Morgen war Starna immer noch wach gewesen und zog mit Ruß einige Markierungen an der Schamanenkeule nach. Ihre Augen glänzten seltsam. Rikkinen vermutete, dass sie sich mit einem Stärkungsmittel wach gehalten hatte. Er kannte das von seinem Vater. Die Droge war gewiss harmlos genug, ein Kräuter-Aufguss vielleicht. Schamanen wussten immer, was sie taten. Und für die Gelegenheiten, zu denen sie es selbst nicht so genau wussten, hatten die Geisterrufer gute Erklärungen parat.
Doch Rikkinen war dankbar für den Schlaf. Also gab es für ihn weder Anlass zu Vorwürfen noch zu Fragen.
Sie folgten den Tag über mehr oder weniger dem Flusslauf, stemmten sich gegen den immer wieder auffrischenden Wind, der vom Wasser herüberzog, und blieben auf der Spur des Diebes. In der Nacht fanden sie Schutz in einem Gebüsch gedrungener, sturmzerzauster Erlen.
Am nächsten Tag wurde Starna merklich unruhiger.
Es begann zu nieseln. Hinter den Regenschleiern wirkte die Tundra wie von gigantischen Maulwürfen durchwühlt. Der Weg ging auf und ab über kleine Erdauswürfe, und die Löcher dazwischen zwangen die Reisenden zum Zickzack-Lauf. Immer wieder blickte sich Starna um und spähte ins Umland.
Rikkinen ärgerte sich. Warum trödelte ... »Pass auf!«
Die Warnung kam zu spät.
Eine Erdscholle bröckelte vom Rand der Grube ab. Starna rutschte weg, als der Boden unter ihren Füßen nachgab.
Gerade noch konnte Rikkinen sie festhalten und zu sich hinziehen. Der Ruck ging auch ihm durch und durch. Sein Nacken glühte schmerzhaft auf. Rikkinen wankte, und fast wären sie beide in die kegelförmige Grube geschlittert.
Aber Starna in seinen Armen hielt dagegen, und sie gewannen wieder festen Grund unter den Füßen. Rikkinen spürte Starnas Körper, fühlte, wie sich ihr Brustkorb hastig hob und senkte. Ihr rasender Atem strich über seine Haut. Ihm wurde heiß.
»Was ist los?«, fragte er. Rikkinen war erschrocken über Starnas Missgeschick und gleichzeitig betroffen von seiner körperlichen Reaktion auf ihre Nähe. »Pass lieber auf, wohin du trittst.«
»Ich suche ein Obdach für uns«, entgegnete sie, ohne auf seinen gereizten Tonfall einzugehen. »Es ist Tamuukan - du solltest dann besser nicht auf der offenen Tundra sein.«
»Wir meinst du«, betonte Rikkinen.
»Ja, wir!«, antwortete Starna und stemmte sich leicht gegen seinen Griff. »Wir müssen einen sicheren Platz für die Nacht der Wölfe finden. Einen besseren Unterschlupf als gestern.«
Rikkinen ließ Starnas Arm los.
Sie drehte sich fort wie eine Forelle beim Sprung. »Danke!«, meinte sie und ihr Lächeln beschleunigte Rikkinens Herzschlag.
War Starna nicht gerade einen Moment länger als nötig in seinen Armen geblieben? Bildete er sich nur etwas ein, oder spürte er tatsächlich häufiger ihren Blick voll Sorge auf sich ruhen?
»Ich verspreche, dass ich nach einer Stelle zur Übernachtung suche, wenn du aufpasst, wohin du deine Füße setzt«, sagte er leichthin und versuchte, die ihr gegenüber aufkeimenden Gefühle zu vergessen.
»Gern«, antwortete die Schamanin, während der Goblin hinter ihnen unvermutet losschnatterte.
»Surg, ich habe eine Aufgabe für dich!«, unterbrach Starna ihn sogleich, als habe das Geräusch sie erst wieder an Surgs Anwesenheit erinnert. »Ich suche nach einer bestimmten Pflanze, und die Blüte sieht genau so aus ...«
Der Dieb fühlt sich sicher, überlegte Rikkinen beim Anblick der Fährte. Er reiste langsamer und seine Spuren waren ausgeprägter als zuvor. In der aufgeworfenen Erde war jeder Abdruck leicht zu erkennen, zumal die oberste Erdschicht durch den feinen Regen beständig feucht blieb.
Wie er Starna versprochen hatte, hielt Rikkinen Ausschau nach einem guten Platz für die Nacht. Aber die Tundra war offen und die wenigen Waldflecken bestanden aus einzelnen, lichten Birken ohne viel Unterholz. Notfalls musste eben eine der Gruben herhalten, wenn sie eine fanden, in der nicht knietief schlammiges Wasser stand. Vielleicht konnten sie eine Decke als Wind- und Regenschutz darüberziehen, aber es wäre immer noch ein Loch.
Rikkinen machte Starna gegenüber eine entsprechende Andeutung. »Diese Löcher sind nicht natürlich entstanden. Hier müssen viele Menschen am Werk gewesen sein.«
»Menschen suchen gelbes Metall«, erklärte Surg von hinten. »Wühlen im Boden wie die Schweine nach Essen.«
Nein, nicht dieses Thema, dachte Rikkinen. Aber es war bereits zu spät, und der Goblin erzählte munter weiter. »... mein Schwein ging immer in Schlammgrube zum Suhlen. Machte Oink oink und nachher lief in Wald, um sich an Baum zu reiben. Schlamm fällt ab. Warum Schwein gerne schmutzig, weiß Surg nicht. Er immer waschen Lieblingsschwein ...«
Surg sah selbst fast schon wie nach einem Schlammbad aus. Die feuchte Erde haftete an seinem Pelz besonders gut, und seine Füße waren bis zu den Waden hoch mit Lehm verkrustet, als hätte er gelbe Stiefel an.
Seinen alten Anaurak erkannte Rikkinen kaum wieder. Der Goblin hatte verschiedene Taschen angebracht, die sich prall gefüllt hervorwölbten wie Beulen. Das Fell des Goblins war dunkel vor Nässe und der Anaurak dreckbespritzt, wodurch der Übergang von Kleidung zu Fell kaum auszumachen war. Aus der Ferne konnte man ihn fast für einen kleinen, missgestalteten Ork halten.
Ihr Weg führte sie wieder dichter an den Frisund heran. Das Wasser schäumte und brach sich an einigen Ufervorsprüngen. Starna entdeckte flinke, braune Gestalten im Wasser - Fischotter. Von ihrem munteren Treiben angesteckt, zwinkerte Rikkinen Starna zu und tat so, als wollte er sie in eine der lehmigen Erdgruben schubsen.
Starna hob den Fuß, an dem ein tellerförmiger Matschklumpen hing, und drohte ihm stumm einen Tritt an. Für einen Moment löste sich ihre Anspannung und sie lachten.
Ein Sonnenstrahl drang durch das Wolkenmeer am Himmel. Als kurz darauf am Horizont die Umrisse einer größeren Ortschaft auftauchten, sah es so aus, als hätten sie für die Wolfsnacht ein Obdach gefunden.
Je näher sie der Stadt kamen, desto unebener wurde das Gelände und der glitschige Boden rings um die Aushübe machte die Löcher zu wahren Fallgruben. Zum Glück wuchs überall das unverwüstliche Tundragras und gab den Füßen Halt.
Surg kam mit einem ganzen Strauß der von Starna gewünschten Blüten an, und sie steckte die Blumen in einen leichten Beutel, um die Stängel nicht zu knicken. Starna brauchte den Pflanzensaft und die Blütenblätter für das Ritual. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Geistreise spürte sie einen Kloß im Hals. Aber es war Tamuukan, die Nacht der Wölfe, und sicher würden die Geister ihr beistehen.
Je weiter sie sich der Stadt näherten, desto seltsamer aber wurde Starna zu Mute. Es war totenstill und einsam. Waren die Jänak so wasserscheu? Oder... Die hoffnungsvolle Stimmung von vorhin versickerte mit den Regentropfen in der Erde.
Vor der Ortschaft lag ein freies Feld, umgeben von einem lückenhaften Bretterzaun. Auf den ersten Blick hielt Starna das Gelände für ebenso durchwühlt wie die Umgebung.
Doch dann fiel ihr der Unterschied ins Auge: Es gab dort nur aufgeschüttete Hügel, zwei Schritt lang und halb so breit. Beim Näherkommen erkannte Starna zerbrochene Räder in den Erdhaufen. Es gab halbe Wagenräder, aber auch zierliche Reifen. Einige waren aus Latten zusammengezimmert.
Dazwischen steckten Tafeln im Boden, windschief und von Sonne, Frost und Regen ausgebleicht. Darauf war ein schwarzer Vogel zu sehen, eine Krähe oder ein Rabe vielleicht. Unter einigen der flacheren Erdhügel schauten helle Steine hervor und längliche Stücke wie bleicher Reisig.
Starna trat näher heran, verharrte aber vor dem Zaun. Ihr fröstelte. Schaudernd bemerkte sie, dass die gelblichen Steine in Wirklichkeit vom Regen freigespülte Knochen Waren. Ein Schädel lag sogar zwischen den Hügeln, aus seinen Augenhöhlen wuchs besonders üppig das Tundragras.
Sie wandte sich ab. Hier wohnten die Toten der Jänak.
Starna berührte zitternd ihren aus Geweih geschnitzten Doppelzahn. Das Schutzamulett fügte bösen Geistern, die ihr zu nahe kamen, zweifachen Schmerz zu und hielt damit ungerufene Seelen auf Abstand.
»Bleibt in euren irdenen Häusern, ihr Toten«, flüsterte sie und schlug eilig ein Schutzzeichen vor Rikkinen und sogar Surg. Sie fror in der Stille dieses Ortes und beeilte sich, den Platz hinter sich zu lassen.
Dann sah sie die Ruinen.
Was aus der Entfernung wie eine Stadt der Südländer ausgesehen hatte, entpuppte sich von Nahem als Ansammlung aufragender Bretterwände, eingestürzter Dächer und leerer Fensterhöhlen. Starna kannte Häuser und Straßen aus Enqui, wo sie damals mit Yassi gewesen war. Doch dieses Jurtunar der Südländer war schon lange verlassen.
Hier musste es gebrannt haben. Einige verkohlte Gerüste stachen wie abgebrochene Finger gen Himmel. Vor Starnas innerem Auge verschmolzen die Bilder mit denen ihres zerstörten Lagers. Die Erinnerungen waren so stark, dass sie glaubte, Rauch zu riechen - wie damals.
Sie schluckte die Angst herunter. Dies waren keine frischen Trümmer.
Schweigend betrat Starna mit Rikkinen die Stadt. Surg huschte unruhig von einem zum anderen, unsicher darüber, wer ihm hier mehr Schutz versprechen konnte, die Schamaninmutter oder der stämmige Jäger.
Im Kern der Ortschaft waren die Häuser besser erhalten als im Außenbereich. Zwischen einfachen Hütten, die wie Ställe oder Werkstätten aussahen, führte eine Straße an Hausfassaden und Stufen aus verfaulten Holzbohlen vorbei. Vor den Häusern lagen Planken im morastigen Boden, um das Gehen zu erleichtern. Aber als Starna prüfend den Fuß darauf setzte, bröckelte das morsche Holz wie weicher Käse. Die Stadt war tot. Hier gab es nicht eine Menschenseele.
»Mir gefällt es hier nicht!«, sagte Starna.
Surg blieb in ihrer Nähe und versuchte, sich hinter seinem Sack mit Diebesgut zu verstecken.
Rikkinen nickte. »Die Stadt ist verlassen. Ich habe gehört, dass Goldgräber über die Lande ziehen wie Nomaden. Wenn sie das gelbe Metall aus einem Gebiet eingesammelt haben, reisen sie weiter.«
»Wer würde hier wohnen wollen?«, fragte Starna. Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Ort ausgesehen hatte, als hier noch Leben herrschte.
Die Häuser waren ehmals bunt angestrichen gewesen -einzelne Bretter trugen noch Farbreste in Scharlachrot oder leuchtendem Gelb. Ein relativ gut erhaltenes Wandgemälde zeigte eine Reihe Frauen, die ihre nackten Beine in die Höhe schwangen. Die Hälfte des Bildes war abgeblättert, aber Starna sah, wie bunt die Frauen angezogen waren. Festgewänder, dachte sie. Die Menschen hier müssen viel gefeiert haben.
Die Häuser längs der Straße hatten große Eingänge, in denen zweigeteilte Türen lose im Wind schwangen. Darüber baumelten Wirtshausschilder von der Machart, wie Starna sie schon einmal gesehen hatte. Aber anders als in Enqui waren hier Werkzeuge und gelbe Steine abgebildet, die vermutlich Gold darstellen. Und dann gab es noch die Schilder mit den leicht bekleideten Frauen oder nackten Männern. Starna überlegte, ob sie wohl Badehäuser oder Schwitzhütten kennzeichneten.
Als sie Rikkinen gegenüber eine Bemerkung fallen ließ, lachte er nur auf eigentümliche Weise. »Nein, das denke ich nicht.«
Aber mehr wollte er dazu nicht sagen.
In der Stadt herrschte ein seltsames Zwielicht, als habe sich eine graue Wolkenwand zwischen den Häusern ausgebreitet.
»Es ist schon weit nach Mittag«, begann Starna, nachdem sie die Straße einmal entlanggelaufen waren. »Sollen wir diesen Ort verlassen und versuchen, etwas Besseres zu finden?«
Rikkinen trat ein Stück abseits der Straße zu einem Haufen Bretter. Als er das Holz mit dem Fuß beiseite schob, sah er ein Gerippe, die Knochen vielfach geborsten. Starna hörte einen Laut des Absehens, dann kam Rikkinen zu ihr zurück. In der Hand hielt er eine rostige Waffe der Jänak, eine gekrümmte Klinge.
»Hier ist gekämpft worden«, sagte er und spießte die Klinge in den Schlamm der Straße. »Das ist nicht die erste Waffe, die ich sehe. Werfen wir einen Blick in die Häuser.«
Sie gingen von einem Gebäude zum nächsten. Surg verlor seine Angst, als er merkte, dass die Stadt ausgestorben war. Er stöberte eifrig im Schutt und brachte einiges zu Tage. Von Rostblüten überwucherte Axtblätter, geborstene Schwertklingen und immer wieder Menschenknochen. Surg warf die Gebeine respektlos auf einen Haufen und wühlte weiter. Starna ging das Klappern der Knochen durch und durch.
»Lass das, Surg«, rief sie beklommen, und tatsächlich hörte der Goblin auf sie. Auf seinen Armen türmten sich zerbrochene Waffen und anderer Plunder, und er hielt den Stapel mit dem Kinn gerade eben im Gleichgewicht. Starna winkte ihn heran. Sie wollte den Anschluss zu Rikkinen nicht verlieren, der schon vorgegangen war und in die Fensterlöcher spähte.
Bei den meisten Häusern bestand der untere Teil nur aus einem einzigen großen Raum. Dort fanden sie noch mehr Knochen, stumpfe Klingen und verrottetes Holz. Der Boden war übersät mit Tonscherben und zersplittertem Glas.
Eines der Gebäude wirkte besser erhalten. Es gab kaum Trümmer und keine menschlichen Überreste. Eine Theke verlief vor der Wand, die dem Eingang gegenüber lag.
An der anderen Wand entdeckte Starna ein weiteres Wunder der Jänak: Ein zersprungenes Stück Glas, groß wie ein ausgewachsener Mensch. Starna kam näher und blieb gebannt stehen. Das Glas warf Starnas Bild zurück. Die Nivesin schaute fasziniert auf die glänzende Fläche. Je nachdem, wie sie sich drehte, sah sie zwischen den gezackten Splittern eine große Starna oder viele kleinere.
Ein Poltern drang an ihr Ohr, und sie drehte sich um. Für einen Moment hatte sie die bedrückende Umgebung vergessen. Aber zu ihrer Erleichterung war es nur Surg, der seine Schätze in einer Ecke ablud.
Dann schlüpfte der Goblin die schmale Treppe hinauf, die auf eine hölzerne Balustrade im Obergeschoss führte. Das Holz ächzte, trug jedoch das Gewicht. Dumpf ertönten Surgs Schritte über ihnen. Etwas klapperte, schlug. Eine Weile rumpelte es oben.
Starna mochte die brüchigen Stufen nicht hinauflaufen, um nachzusehen, was der Goblin dort trieb. »Surg! Was machst du da?«, rief sie. Aber da kam Surg auch schon wieder herunter. Sein Gewand beulte sich noch stärker aus. Außerdem schleppte er etwas hinter sich her. Es war lang und schleifte über die Treppenstufen.
Zuerst sah Starna nur eine aufwirbelnde Staubwolke, aber als der kleine Goblin den Fußboden erreicht hatte, erkannte sie in seiner Hand ein Stück Stoff, leuchtend rot und doppelt so lang wie er selbst. Die Stellen, wo der Stoff über den Boden schleifte, waren ausgefranst und schmutzig.
»Was willst du mit dem Fetzen?«, wollte Rikkinen wissen. »Du hast doch schon meinen Anaurak.«
»Das Mantel von Surg.« Der Goblin wollte sich die Beute umlegen wie einen Umhang, doch der morsche Stoff riss unter seinen Fingern. Verärgert ließ Surg die Einzelteile fallen.
»Da oben mehr davon.«
Als er wieder Richtung Treppe stapfte, knallte es unerwartet und er brach mit dem Fuß durch den Boden.
Starna sog erschrocken die Luft ein. Der Goblin schrie vor Entsetzen und zappelte, sodass Rikkinen, der neben ihm stand, erst einmal den rudernden Armen auswich.
»Ganz ruhig, Surg«, sagte Starna zu dem verschreckten Goblin. »Du steckst fest, sonst ist nichts passiert. Wir helfen dir.«
Auf diese Worte hin wurde Surg still und greinte nur noch wie ein kleines Kind. Vorsichtig zog er selbst den Fuß zwischen den Brettern hervor. Aber auf halbem Weg schrie er vor Schmerz auf und verharrte.
Starna prüfte die Dielen vor der Theke, bis sie sicher war, dass sie ihr Gewicht trugen. Nur eine einzelne Planke war morsch. Rikkinen und sie hockten sich neben den Goblin. Vorsichtig durchtrennte Rikkinen mit dem Messer die Reste der zersplitterten Bodendiele und nahm sie zur Seite fort.
Surg hob jetzt jammernd den Fuß hoch.
»Keine Angst, Surg, ich sehe mir das mal genauer an.« Starna nahm ihren Lederbeutel und schüttete Wasser über Surgs Knöchel, um Schlamm und Staub abzuwaschen.
»Surg nicht kann sehen«, rief der Goblin und hielt sich die Augen zu. Aber es blutete gar nicht. Nur die Haut war ein wenig aufgeschrammt.
»Ich hoffe, es ist nicht schlimm mit dem Knöchel, damit wir rasch weiterkommen«, murmelte Starna und zog einen Verbandsstreifen aus der Tasche.
Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine verstohlene Bewegung im Spiegel. Zwischen dem hohen Schrank und der Ecke wuchs ein Schatten heran. Er kroch vor und ...
»Rik!«, konnte Starna gerade noch rufen, da sprang die Gestalt auch schon auf sie zu. Starna warf sich zur Seite und rollte über den Boden ab. Sie fühlte den leisen Luftzug, mit dem eine Klinge neben ihrem Kopf niederging. Knirschend fuhr die Waffe in den Boden,
Surg kreischte in den höchsten Tönen.
Rikkinens Blick flog von einem zum anderen, dann stürmte er auf den Angreifer zu und stieß ihn mit vorgeschobener Schulter fort. Der Fremde stürzte und rutschte flach auf dem Rücken über den Boden bis zur Wand. Einen Herzschlag lang blieb er dort liegen. Aber flink wie ein Schneelaurer kam er auf die Füße und hechtete vor.
Ihr Gegner war haarig und zerlumpt, mager, aber schnell. »Dreckiger Ork!«, brüllte er und stürzte knurrend auf Surg zu, der einbeinig wie ein grotesker Frosch über den Boden hüpfte. Er sperrte vor Furcht die Augen auf.
Rikkinen wurde vom Ansturm des Fremden beiseite gedrängt. Doch Starna warf sich dem Angreifer in den Weg. Die Zöpfe peitschten um ihren Kopf, sie hob die Handflächen. »Kein Ork!«, schrie sie. »Wir sind ...«
Etwas blitzte in den Augen des Mannes auf. Seine verzerrte Miene ließ für den Bruchteil eines Lidschlags ein vertrautes Gesicht erahnen. Starna fühlte sich, als habe ein Tritt ihr die Luft aus der Lunge gepresst. Sie kannte den Mann.
»Pevyk, halt! Ich bin es, Starna.«
Die Gestalt zuckte kurz zusammen. Dann verfinsterte sich das Gesicht des Angreifers erneut. Der Mann kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen und krallte die Finger zusammen wie Klauen. Er war doppelt so schwer wie Starna, das Gesicht voller Narben und tief gekerbter Falten.
War es wirklich Pevyk? Starna zweifelte an ihrer Wahrnehmung. Sie hatte seinen Namen genannt und ihren eigenen. Wenn diese Namen ihm nichts bedeuteten, dann musste sie sich wohl geirrt haben. Sie ließ die Hände sinken und tastete nach der Wurfkeule am Gürtel.
Aber Rikkinen war schneller. Mit einem Fuß fegte er dem Mann Surgs Stoffstreifen ins Gesicht.
»Aaaahhao! Tod den Orks. Tod!«, jaulte der Mann und schlug nach dem staubigen Stoff.
Rikkinen sprang hinter ihn. Er packte den hustenden Angreifer am Arm, wirbelte ihn herum und drehte ihm dann den zweiten Arm auf den Rücken. »Starna, schnell mein Seil.«
»Starna, weg da. Weg!«, schrie der Tobende plötzlich. »Der Ork kommt auf dich zu.«
Starna stand wie vom Donner gerührt.
»Los, nun fessel ihn doch endlich«, schnauzte Rikkinen.
Sie nickte und wickelte den Stoffstreifen für Surgs Knöchel eng um die Handgelenke des Mannes. Seine Haut starrte vor Schmutz, sein Gewand war ein zerfetzter Lumpen.
Er hatte sie Starna genannt.
»Alles ist gut!«, sagte sie beruhigend und schob Surg ein Stück weiter fort. Sein Anblick brachte den Fremden offensichtlich besonders durcheinander.
Als er gefesselt war, ergab sich der Gefangene in sein Schicksal. Rikkinen drückte ihn auf den Boden und fesselte auch noch seine Füße. Erst dann rückte er angewidert von ihm ab.
Starna bekam nun die Gelegenheit, den Fremden in Ruhe zu betrachten. Ohne jeden Zweifel war der Mann ein Nivese. Sie erkannte auf seiner Kleidung die Reste der Stickereien, wie sie ihre Sippe fertigte. Die strähnige Haarmähne und der buschige Bart waren rot, wie ihr Schopf. Zuletzt schaute Starna dem Gefangenen in die leicht schräg gestellten Augen - scheu, was der Blick enthüllen würde. Aber dann machte ihr Herz einen freudigen Hüpfer. Es war wirklich Pevyk, der sie aus haselnussbraunen Augen anblickte.
»Starna, was machst du mit mir?«, fragte er vorwurfsvoll.
Für Starna blieb die Zeit stehen. Sie dachte daran, wie sie ihn vor fünf Sommern im zerstörten Lager ihrer Sippe getroffen hatte. Pevyk hatte das Massaker nur überlebt, weil er bei der Herde gewacht hatte. Aber seine Verlobte Yalunka war unter den Opfern gewesen. Pevyk hatte vor Schmerz den Verstand verloren. Er war fortgelaufen, und kein lyamit hatte ihn seither wiedergesehen.
»Pevyk! Ich bin froh, dass es dir gut geht«, stotterte Starna. »Du musst keine Angst haben. Das hier ist Rikkinen, ein Jäger von den Hekkla. Und dieser Goblin dort heißt Surg. Er will uns nichts Böses. Er ist nur ein Goblin, ein Rotpelz, kein Ork!«
»Starna? Du lebst?«
Sie lächelte. »Pevyk, du bist hier in Sicherheit. Du kannst mit uns reisen, und dann kehren wir zu unserem Stamm zurück. Zu den lyamit.«
»Die lyamit sind alle tot. So wie Yalunka gestorben ist. Warum bist du nicht tot? Die Stimme hat mir erzählt, du wärst gestorben.« Pevyk legte den Kopf schief.
Starna lief es bei Pevyks Worten kalt den Rücken hinunter. Er war durcheinander, natürlich. Es musste verwirrend sein, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber warum bestand er so darauf, dass sie gestorben war? »Pevyk, wenn du mir versprichst, dass du uns nicht angreifst, dann binden wir dich los«, meinte sie.
Alarmiert sah Rikkinen auf. Seine Miene drückte alles andere als Einverständnis aus. Er schüttelte den Kopf. Starna nahm ihn beiseite und erklärte ihm in kurzen Worten, was damals passiert war.
»Mach dir keine Gedanken um Pevyk«, schloss sie. »Er wird friedlich bleiben, jetzt, wo er mich erkannt hat.«
Starnas Herz klopfte wild. Sie hatte den letzten Verlorenen ihres Stammes wiedergefunden. In einem stillen Gebet dankte sie den Himmelswölfen und allen voran Liska. Wenn doch Yassi... Sie schluckte.
Das alles war ein gutes Omen im Hinblick auf ihren Plan. Sie war sich jetzt ganz sicher, dass die Geistreise zu Tamuukan ungefährlich war, trotz des bösen Geisterwesens. Sie war, anders als Rejko, auf etwas Ungewöhnliches vorbereitet. Und die Himmelswölfe würden ihr beistehen.
Heute war der richtige Tag, um herauszufinden, wo sich der Dieb aufhielt. Trotz der vielen unverbrannten Toten, deren Knochen sie in der Stadt entdeckt hatten, war es ein guter Ort. Wer weiß, vielleicht mussten Jänak nicht als Rauch in die Ewiggrüne Ebene geschickt werden. Vielleicht fanden sie von allein ihren Weg in die Nachwelt.
Starna atmete tief ein. Die Geister würden sie führen.
Rikkinen scharrte während ihrer Überlegungen mit dem Fuß über den Boden. »Er ist wirklich einer von deinen Leuten?«, fragte er zweifelnd.
»Ja, es ist Pevyk«, bestätigte Starna. Pevyk hatte gelitten und war älter geworden, aber er gehörte zu ihrer Sippe. »Wir sollten ihm Vertrauen entgegenbringen und ihn losbinden.«
Rikkinen verzog das Gesicht. »Gut, binde ihn los. Aber nur, wenn du dir ganz sicher bist.«
Starna trat auf ihren Sippenbruder zu. »Bitte, Pevyk, wir möchten dich nicht mit den Fesseln quälen. Aber du musst uns versprechen, den Goblin in Frieden zu lassen.« Sie flehte fast. Nichts sollte ihr Glück jetzt trüben.
Was hatte Pevyk in den vergangenen Jahren wohl alles durchgemacht?
Doch für diese Fragen blieb später noch genug Zeit.
»Was, wenn der mir weh tut?«, fragte Pevyk mit einer Kinderstimme.
Starna sah, dass er weinte. Die Tränen wuschen Rinnsale in sein verschmiertes Gesicht.
»Keiner will dir weh tun. Ich gebe dir mein Versprechen als Schamanin, dass wir dich gut behandeln, Pevyk.«
Jetzt schluchzte Pevyk haltlos. »Ich möchte gerne, dass alles wieder wie früher ist, Starna. Ich möchte nicht mehr allein sein.«
»Du gehörst jetzt zu uns!«, sagte Starna und band Pevyk los.
Lange war sie nicht mehr so glücklich gewesen.
Surg traute dem lyamit nicht und damit waren Rikkinen und der Goblin ausnahmsweise einer Meinung. Rikkinen merkte, wie der Goblin den Blick des Verwirrten mied.
Davon abgesehen benahm sich der Rotpelz kindisch wie immer. Unglücklich sah Surg häufig auf seinen verbundenen Knöchel, aber Rikkinen war aufgefallen, dass er den Fuß ganz normal benutzte, wenn er sich unbeobachtet fühlte oder von einem interessanten Beutestück abgelenkt war. So schlimm konnte die Verletzung also nicht sein.
Pevyk seinerseits hielt Abstand sowohl zu Rikkinen als auch zu dem Goblin.
Starna hatte ihren Sippenbruder zu einem Bad in einem gut erhaltenen Trog überredet, den sie an der Straße entdeckt hatten. Pevyks Haar war nun geglättet, sein Bart sauber. Das armselige Gewand hatte der lyamit jedoch nicht hergeben wollen, obwohl Rikkinen ihm seine Decke als Ersatz angeboten hatte. »Das hat Yalunka genäht«, sagte er nur und presste die Lippen zusammen, sodass Rikkinen schließlich die Achseln zuckte.
Er beäugte misstrauisch die rostfarbenen Flecke auf dem zerlumpten Kleidungsstück, die auch das nachgedunkelte Leder nicht verbergen konnte. Hatten die Goldsucher Recht gehabt? Vielleicht gab es ja einen Nivesen, der ihnen nachstellte. War Pevyk dieser Kerl?
»Heda, Pevyk, wie hast du uns eigentlich gefunden?«, fragte er schon beinahe grob.
Pevyks Augen leuchteten auf. »Ihr wart nicht zu überhören. Und ich lebe hier.« Er deutete auf den von der Theke abgeschirmten Bereich des Zimmers.
Rikkinen schlenderte dorthin und guckte über den Tresen. Trockenes Gras war längs der Wand auf dem Boden verteilt. Essensreste und ein paar Habseligkeiten verrieten, dass sich dort jemand regelmäßig aufhielt. Es roch wie in einem Fuchsbau, und er kam rasch zurück.
Das erklärte natürlich, warum es ausgerechnet in diesem Haus keine Knochen und wenig Trümmer gab. Was hatte dieser Pevyk nur die ganze Zeit hier allein getrieben?
Rikkinen kratzte sich den Nacken. Die ganze Sache gefiel ihm nicht. Aber er wollte Starnas Urteil nicht anzweifeln. Schließlich war Pevyk ihr Sippenmitglied.
Als hätte Starna den prüfenden Blick gespürt, winkte sie Rikkinen ein Stück näher, fort von den Gefährten. Was gab es für Geheimnisse, die sie vor Pevyk und dem Goblin verbarg?
»Heute ist Tamuukan«, begann Starna.
Rikkinen zuckte bei dem Wort zusammen. Als hätte er das vergessen können.
»Sobald es dunkel wird, werde ich draußen auf der Tundra mit der Nacht eins werden. Ihr drei seid hier in Sicherheit, denn die trauernden Wölfe meiden Ortschaften. Aber auch fernab meines Volkes habe ich Pflichten als Schamanin zu erfüllen.«
»Kannst du das nicht hier erledigen?«, fragte Rikkinen halbherzig. Als wüsste er nicht, wie halsstarrig Starna in diesen Angelegenheiten war. In diesem Punkt ähnelten sich wohl alle Schamanen.
»Die Wölfe gehen den Menschen aus dem Weg. Ich muss mich daher in die Einsamkeit begeben, um mit ihnen über Madas Verrat zu trauern.«
Rikkinen nickte. Ja, Madas Verrat hatte menschliche und wölfische Geschwister entzweit. Es gab niemanden, der diese Legende nicht kannte. »Tu heute Nacht deine Pflicht. Ich achte in der Zwischenzeit auf den diebischen Goblin!«, versprach er und fügte in Gedanken hinzu: und auf Pevyk.
»Es bleibt noch etwas Zeit«, meinte Starna lächelnd und zog behutsam die Pflanzen hervor, die Surg für sie gesammelt hatte. Sie hockte sich an eine Wand und winkte Surg heran. »Soll ich eine Geschichte erzählen?«
Eifrig kam der Goblin herbei. Auch Pevyk wurde aufmerksam und rutschte näher. In seinen Augen stand ein hungriger Ausdruck, bei dem Rikkinen ein kalter Schauder über den Rücken lief.
Starna zupfte die gelben Blütenblätter einzeln ab und ließ sie auf ein Tuch rieseln. »Menschen und Wölfe waren einst Brüder, vor langer, langer Zeit«, begann sie.
Surg schmatzte leise.
O, dachte Rikkinen. Es gibt tatsächlich noch einen hier, der diese Legende bisher nicht gehört hat.
Starna hob die Stimme. »Da stieg die Himmelswölfin Liska zu den Menschen hinab, um ihre Jungen auf die Welt zu bringen. Es war kalter Winter, und grimmig biss der Frost. Die Hirtin Vae lud die erschöpfte Wölfin über Nacht in ihre Jurte.
Als Mada, der Sohn der Hirtin, ermattet von der Jagd zurückkehrte, fand er seinen Platz am Feuer von der Wölfin besetzt. Mada war stolz und hochfahrend. ›Wenn dieses Tier an meiner Stelle in der Jurte sitzt, dann werde ich hinaus in die Kälte an den Platz eines Tieres gehen‹, sprach er und kehrte seinem Heim den Rücken. Denn er missgönnte Liska die Wärme des prasselnden Feuers, obwohl die Himmelswölfin sichtlich mitgenommen von ihrem gesegneten Zustand war ...«
Starna sortierte die Pflanzen und redete über Madas verhängnisvolle Tat. Wie Perlen an einer Schnur glitten die Worte voran. Starna schmückte andere Einzelheiten der Legende aus als Rejko, und ihre Erzählweise unterschied sich von seiner. Es war beinahe, als höre Rikkinen die Geschichte zum ersten Mal. So erlag auch er dem Zauber der Legende und setzte sich dazu.
Aber auch, wenn jeder Schamane die Legende ein wenig anders erzählte - der Inhalt war immer derselbe: Als Liska die Welpen geboren hatte und schlief, da schlich sich Mada wieder in die Jurte. Beim Anblick der Welpen und ihres goldenen Fells überkam ihn die Gier. Er packte die kleinen Wölfe und schleppte sie davon.
Die Welpen aber riefen nach Liska. Um sie zum Schweigen zu bringen, erschlug Mada die hilflosen Welpen. So kam zu der Gier noch der Mord hinzu - und seither war der Frieden zwischen Zwei- und Vierbeinern zerstört. Das göttliche Rudel verwüstete die Welt, und nur Liskas weiches Herz rettete die Menschheit vor der Rache ihrer Brüder und des großen Gorfang.
Aber Madas Tat sollte nie vergessen werden. Liska legte die kleinen Körper der Welpen zum Andenken auf einen goldenen Teller und brachte ihn am Horizont an, wo dieses Schandmal die Nivesen Nacht für Nacht an Madas Tat erinnerte. Und wenn das Madamal zu Tamuukan voll am Himmel stand, trauerten die Wölfe um die Welpen und die Menschen um den verlorenen Frieden.
Rikkinen räusperte sich und dachte an den gestohlenen Goldglanz. Eine Gänsehaut kroch über seine Arme. Vielleicht wurde es langsam Zeit für einen neuen Frieden.
Aber da war auch sein eigener Verlust. Solange die Wölfe um die Welpen trauerten, würde er um Kerjuk trauern.