24. Kapitel
Rikkinen träumte.
Er steckte zusammen mit Mada in einem Strudel, der sie beide unaufhörlich nach unten zog. Blasen umwirbelten sie und stiegen bis an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er selbst aber tauchte an Mada gefesselt tiefer hinab. Das weiß schäumende Wasser wandelte sich in einen stillen See, geheimnisvolles grünes Licht und sanft wogende Pflanzen.
Und dann glitt auch dieser Bereich vorbei, und es wurde dunkel.
Furcht ergriff Rikkinen und drückte ihm die Kehle zu. Seine Brust wurde eng. »Was ist mir?«, stieß er hervor und spähte angstvoll durch die Schatten.
Mada lachte. »Du stirbst!«, sagte er. »Sobald es mit dir zu Ende ist, übernehme ich deinen Körper.« Madas Geistfinger schlängelten sich wie Krakenarme durch Rikkinens Bewusstsein. Rikkinen wollte sie fortdrängen, besann sich aber eines Besseren.
Er war an Mada gefesselt, aber Madas Geist ebenso gut an ihn. Vielleicht konnte Rikkinen ihn festhalten, bis es zu spät war und Mada ihm folgen musste.
Rikkinen streckte die Arme aus und umklammerte den Feind.
Der Wasserdruck lastete auf ihm, sein Denken wurde schwer. Samtige Schwärze umschmeichelte Rikkinen. Aber er hielt fest, bis seine Muskeln erschlafften und er der süßen Stimme des Schlafes nachgab.
Sein Herzschlag dröhnte laut wie eine Trommel, langsamer, langsamer. Rikkinen schwebte durch die Dunkelheit. Bilder erschienen vor ihm, leicht wie Luftblasen. Er war gleichzeitig in den Bildern und betrachtete sie von außen.
Sekjera, die ihm lachend eine Blume ins Ohr schieben wollte. Es kitzelte und er musste kichern.
Rejko, der ihm einen kühlen Umschlag auf die fieberheiße Stirne legte. Das tat gut. Die Kälte sickerte in seinen Kopf hinein und wirbelte wie Schnee durch seine brennenden Gedanken. Er fühlte sich hier wohl.
Rikkinen wollte nach den Bildern greifen wie ein Kind nach Schneeflocken, aber sie trieben durcheinander.
Die Trommel verstummte. Es war still, so still.
Da leuchtete ein flachsfarbener Haarschopf durch die Nacht. Kerjuk kam auf ihn zugerannt. Rikkinen beugte sich hinab, um den Jungen in die Arme zu schließen, doch Kerjuk kehrte um. »Papa. Ich bin schneller als du«, gluckste er. Sekjera und Rejko runzelten die Stirn und versuchten, ihn aufzuhalten.
Rikkinen fühlte ein leises Bedauern für die Zurückbleibenden, aber dann machte er sich freudig auf, um Kerjuk zu folgen. Er war von tiefer Zufriedenheit erfüllt, dass seine Qualen ein Ende hatten und seine Beine ihn leicht und sicher trugen.
Da erklang ein Pochen. Und ein weiteres.
Die Trommel wob ein Netz aus Klängen und Rikkinen verfing sich zappelnd darin. Kerjuks kleine Gestalt war stehen geblieben und winkte ihm zu. »Wo bleibst du denn?«
Rikkinen wollte sich freikämpfen, doch die Trommel dröhnte immer lauter und trieb ihn zurück wie ein störrisches Karen. »Nein!«, schluchzte Rikkinen. Tränen sammelten sich in seinen Augen und tropften zu Boden. Wo sie auftrafen, falteten sich fremdartige Blumen auseinander, blutrot und golden.
Rikkinens Herz krampfte sich zusammen. Langsam trieb Kerjuk davon. Ein letztes Mal noch blickte der Junge sich um, dann schien für einen Moment ein güldenes Licht um ihn aufzuleuchten und er verschwand.
An seiner Stelle erschien eine gewaltige Wölfin mit grauem Fell. Ihre Augen blitzten hell wie Monde. Sie nickte Rikkinen zu. »Die Trommel ruft dich zurück und du musst ihr folgen, Rikkinen.«
Sie sah zur Seite hinüber, und Rikkinen war erleichtert, die Augen abwenden zu können, so intensiv war der Anblick der Wölfin.
Aus der samtenen Dunkelheit ringsum schälten sich die Weiten der Steppe. Zwei Rauhwölfe jagten über die Tundra einen Mann vor sich her. Es war Mada! Wie aufeinander eingespielte Hirtenhunde trieben die beiden Wölfe Mada weiter fort. In der Ferne glänzte es sattgrün, in einer Farbe wie die sonnenbestrahlte Tundra. Rikkinen erkannte in der bernsteinfarbenen Wölfin Starna, der dunkle Rüde an ihrer Seite war ihm fremd.
»Mada kehrt heim«, erklärte ihm die graue Wölfin mit den funkelnden Sternenaugen. »Und auch für dich wird es jetzt Zeit.«
Er blinzelte scheu zu ihr hinüber.
»Als dein Sohn starb, hast du meinen Schmerz beim Verlust der Welpen geteilt. Du hast dein Leben gewagt, um deinen Wolfsbruder zu retten, Rikkinen. Wenn du dich mit dir selbst versöhnst, kannst du zwei Völker versöhnen.«
Von Augenblick zu Augenblick war die Wölfin verschwunden. Rikkinen rieb sich erstaunt die Augen. Dann rollte die Erkenntnis über ihn hinweg. »Liska!«, flüsterte er. Im gleichen Moment kehrten die beiden Rauhwölfe auch schon zurück und gesellten sich ihm zu. Freundschaftlich stubsten sie Rikkinen an und drängten ihn sanft zurück.
Ein letztes Mal sah Rikkinen in Richtung des glänzenden Lichtes. Für einen Moment glaubte er, einen Blick auf Kerjuk zu erhaschen, dann schmolz das Bild dahin. Nur zwei Wolfsaugen, die in einem goldenen Gesicht mit dunkler Zeichnung glommen, folgten ihm.
Rikkinen erwachte von einem Kreischen, das ihm den Schädel zu sprengen drohte. Er riss die Augen auf und schrak hoch. Die Sonne blendete ihn, und sein Kopf schien von einem glühenden Eisen durchbohrt. Er sank stöhnend zurück.
Sofort sprang ihn ein Fellknäuel an und leckte ihm das Gesicht. Goldglanz.
Vorsichtig tätschelte Rikkinen den Welpen und schob ihn ein Stück fort, um Luft zu holen. Seine Rippen stachen immer noch. Goldglanz fiepte zufrieden und rollte sich dann an seiner Seite zusammen.
Die Schmerzen wurden eindeutig besser, solange er still blieb. Also hob Rikkinen nur leicht den Kopf und schaute sich um. Er lag auf einer gefalteten Zeltplane. Die Decke rutschte durch die Bewegung halb von seinen Hüften.
Als Rikkinen an sich herunterguckte, schluckte er einen entsetzten Ausruf hinunter. Über Brust und Arme zogen sich grünliche Verfärbungen; blaue Flecke und verkrustete Schrammen reihten sich an großflächige Quetschungen. Unter einer Bandage am Bauch pochte leichter Schmerz. Er sah aus, als habe er mit einem Bären gerungen. Was gewissermaßen auch stimmte.
Von irgendwo kam ein Quietschen und Platschen. Aber er sah nur Starna, die drei Schritt weiter vor einem Feuer hockte, den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie war eingedöst.
Er räusperte sich.
Starna fuhr hoch und schaute sich erschrocken um.
»Alles in Ordnung«, stieß Rikkinen hastig hervor, als er ihren entsetzten Ausdruck sah, und murmelte dann: »Tut mir Leid.« Wieder musste er Goldglanz abwehren, der sich zwischen ihn und die Decke drängen wollte.
Starna lächelte müde und stand auf. Sie wirkte hohlwangig und erschöpft. Während sie herankam, deutete sie zu Boden. »Die Spur der Himmelswölfe stärkt zwar die Seele, aber Schlaf kann sie nicht ersetzen.« Sie reichte ihm einen Becher Tee.
Rikkinen streckte die Hand danach aus. Sein Blick glitt den Arm mit den Druckstellen entlang, blieb an dem geröteten Handgelenk hängen und traf dann die Handlinien. Der Zeltbogen... der Ahnenberg. Die Linie des Vaters. Die Erinnerung stürmte auf ihn ein und nahm ihm beinahe den Atem.
»Starna, ich bin ... vorsieht, Mada ...«, würgte er hervor.
Starnas Lächeln wurde breiter, als sie ihm den Becher zwischen die Finger drückte. »Keine Angst, Mada ist da, wo er hingehört. Was macht dein Kopf?«
Rikkinen fühlte ein heißes Aufwallen. Die Ungeduld zerrte an ihm wie ein hungriger Schneelaurer. »Was ist geschehen?«, fragte er barsch. »Bitte!«
Starna schöpfte sich selbst einen Becher Tee aus dem Kessel über dem Feuer und hockte sich neben sein Lager. »Du solltest dich besser schonen, Rik. Du hast dir den Kopf angeschlagen. Doch die Wassergeister waren dir gewogen. Nachdem Pevyk und ich dich aus dem Fluss gezogen haben, war ich mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest.«
»Pevyk!« Der Name allein brachte seine Eingeweide zum Sieden. Der Tee in seiner Hand schwappte über.
Starna bat ihn mit einer Geste zu schweigen. »Ich weiß. Pevyk hat mir alles gebeichtet. Ich fürchte, er ist ...« Sie brach ab, und ihre Miene verdüsterte sich. Dann fuhr sie fort: »Er ist verwirrt. Entschuldige, dass ich euch alleine gelassen habe. Es war ein Fehler, Pevyk zu vertrauen, das erkenne ich jetzt.
Du musst verstehen: Der dunkle Schamane war vom Überzähligen besessen. Er hat Pevyk mitgerissen. Der böse Geist hatte die Form von Taarjuk angenommen, um den Mann zu täuschen.«
»Wo ist der Schamane jetzt?«, fragte Rikkinen angriffslustig, obgleich er sich so schwach fühlte, als habe man ihn einen Tag lang in der Schwitzhütte vergessen.
Starna erbleichte. »Die Nebelwand, in der er verschwunden ist, fiel heute Nacht. Gleich heute Morgen habe ich nachgeschaut. Ich habe seine Leiche gefunden. Sie sah aus wie von Wölfen zerfleischt. Sogar der Pelzumhang war in kleine Fetzen gebissen. Pevyk hat mir von Geistern und einem Fluch erzählt. In den Ruinen muss etwas Schreckliches gelauert haben.«
Ich kann nicht behaupten, dass der Bärenmann mir Leid tut!, dachte Rikkinen. Er trank einen Schluck Tee und drückte sich vor der Antwort.
Starna wollte sich aber wohl den Schrecken von der Seele reden, denn sie fuhr fort. »Zum Glück ist mir Surg zu Tamuukan nachgeschlichen und nicht in der Stadt geblieben. Weißt du, er hat den bösen Geist mit einem anderen bösen Geist...«
Sie brach kurz ab und erklärte dann mit fester Stimme: »Zuerst dachte ich, der Schamane wäre von Taarjuk besessen, und der Bärengeist aus der Flasche würde ihn nur noch stärker machen. Aber die vereinte Macht der beiden Geister war zu viel für ihn: Sie überwältigten alles, was in dem Schamanen noch menschlich war.« Starnas Hand umklammerte eines ihrer vielen Amulette. Sie sah alles andere als glücklich aus. »Möchtest du vielleicht etwas essen?« Sie wollte offenbar das Thema wechseln.
Rikkinen schwieg immer noch. Er verstand längst nicht alles, was sie erklärt hatte. Aber er wollte sie auch nicht mit Fragen bedrängen. Starna nippte an ihrem Tee und strich sich die Haare zurück.
»Ich habe von dir geträumt!«, meinte Rikkinen schließlich.
Starna nickte. Ihre Züge lösten sich. »Wir sind uns auf meiner Geistreise begegnet. Nach der Rettung von Goldglanz hast du dir im Wasser übel den Kopf angeschlagen. Dein Geist trieb davon mit dem Steppenwind. Aber ich habe den Weg zu den Himmelswölfen gewagt und dich gefunden.«
Er war der Ewiggrünen Ebene so nah gewesen. Warum konnte Starna ihn nicht einfach ziehen lassen? »Ich habe Kerjuk gesehen.« Rikkinen ließ den Kopf hängen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er ...
Starna blickte ihn streng an. Konnte sie Gedanken lesen? »Liskas Segen war mit dir. Du hast drei Tage lang geschlafen. Goldglanz ist dir während dieser Zeit nicht von der Seite gewichen. Ich glaube, du hast einen Freund gefunden, Rikkinen.«
Er seufzte. »Dann weißt du jetzt ja auch, wer ich wirklich bin«, sagte er bitter.
»Du bist Rikkinen«, meinte Starna mit fester Stimme. »Sohn von Rejko Himmelsschweif und Ehemann von Sekjera.« Sie wurde rot. »Du hast im Traum von ihr geredet. Sehr privates. Bestimmt freut sie sich, dich wiederzusehen.«
Vielleicht. Er hoffte es.
»Und Mada?« Mehr konnte Rikkinen nicht fragen. Die Erinnerungen waren zu frisch, und es war zu viel auf ihn eingestürmt in jener Vollmondnacht.
Goldglanz rückte ein Stück näher und schnüffelte an seinen Fingern. Rikkinen schluckte und kraulte den Welpen im Nacken, dankbar für den Trost. Wenn der goldene Welpe keine Angst vor ihm hatte, dann war Mada sicher nicht mehr da.
»Mit Yassis Hilfe habe ich seinen Geist zurück in die Ewiggrüne Ebene gejagt.« Stolz klang aus Starnas Worten.
Langsam kehrten einige Traumgesichte zu Rikkinen zurück. Er nickte versonnen. Yassi hieß der dunkle Wolfsrüde. Aha! Starnas Geliebter war also ein Geist!
Dann erinnerte sich Rikkinen an ein verschwommenes Bild, das immer undeutlicher wurde, je mehr er daran dachte. Er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, auf das Plätschern des Frisund nahebei, und auf leisen Sohlen kehrte die Erinnerung an eine schlanke graue Wölfin zurück.
Liska. Er hatte Liska getroffen. Ihre Worte standen klar in seinem Bewusstsein und ehe Rikkinen sich‘s versah, sprach er sie aus, um sie nicht wieder zu vergessen: »Als dein Sohn starb, hast du meinen Schmerz beim Verlust der Welpen geteilt. Du hast dein Leben gewagt, um deinen Wolfsbruder zu retten. Du kannst zwei Völker versöhnen, wenn du dich mit dir selbst versöhnst.«
Wieder räusperte er sich verlegen. »Das hat mir die graue Wölfin gesagt.«
Starnas Augen wurden groß. »Liska.« Dann strich sie sich gedankenverloren mit dem Finger über die Oberlippe. »Ellenan, der Heiler der Steppenelfen, hat mir damals etwas ganz ähnliches erzählt. Er meinte, du könntest die Wunde, die in dir ist, nur alleine heilen.«
Rikkinen fühlte einen Stich. Wer sonst noch hatte Geheimnisse vor ihm? Aber er war einfach zu schwach, um sich aufzuregen.
»Mein Sohn Kerjuk ist gestorben«, begann er leise. »Er war noch keine sechs Sommer alt. Seither schmeckt mein Leben mir fade. Und jetzt, wo ich weiß, wer mein Ahne ist ...«
Starna setzte ein ernstes Gesicht auf. »Liska hat uns den goldenen Welpen als ein Zeichen der Versöhnung geschickt. So wie sie den Menschen immer freundlich gesonnen war.«
Vielleicht, dachte Rikkinen, war es gut, dass ich die Wahrheit erst jetzt erfahren habe. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich es früher gewusst hätte?
»Der Weg zurück ist noch lang«, murmelte er. »Ich habe viele Fragen an meinen Vater!« Er verstand nun vieles besser. Und trotzdem ... Einen Moment lang kämpfte er mit widerstrebenden Gefühlen.
Der Weg ist lang, aber ich muss ihn nicht alleine gehen.
Rikkinen streichelte den goldenen Welpen hinter den Ohren. Und endlich fiel ihm auf, woher er die maskenartige Zeichnung über den Augen des kleinen Goldglanz kannte.
Dreikralle war ebenso gezeichnet gewesen.
Rikkinen grübelte noch über seine Entdeckung nach, als erneut das seltsame Quieken ertönte.
»Was ist das? Ich bekomme Kopfschmerzen davon!«, sagte er mürrisch.
Aus einer der Kuhlen ganz in der Nähe tauchte eine rotpelzige Gestalt in einer ärmellosen Ledertunika auf.
Rikkinen stöhnte leise. »Surg!«
Hinter dem Goblin stürmte ein vierbeiniger Schlammklumpen hervor und grunzte. Als Surg das Tier in die Kuhle zurückschob, quiekte es zum Erbarmen.
Starna lachte. »Surg hat irgendwo hier ein Schwein gefunden. Es muss ein verwildertes Tier aus einer Siedlung sein. Jeden Tag treibt er das Schwein zum Waschen in eine der Gruben, aber es suhlt sich lieber im Schlamm.«
Sehr bald darauf tauchte der Goblin persönlich an Rik-kinens Krankenlager auf. »Mann wieder gesund. Gut. Helfen Schamaninmutter mit Peeewik.« Surg legte den Kopf schräg und spähte misstrauisch zu Pevyk herüber, der außer Hörweite vor seinem Zelt hockte. »Surg jetzt reich«, verkündete der Goblin dann und klopfte sich auf die prallen Taschen. »Helfen ganze Dorf. Zeigen alle neue Lieblingsschwein. Gute Weg, Schamaninmutter!«
Starna blickte bei diesem unvermuteten und abrupten Abschied ziemlich verdutzt drein, aber dann wünschte sie Surg alles Gute.
Rikkinen sah dem Goblin mit gemischten Gefühlen nach. Er trauerte immer noch seinem Anaurak hinterher, und das gesäuberte Schwein sah wohlgenährt und saftig aus. Aber er wagte weder das Kleidungsstück noch das Tier zu fordern, aus Angst, der Rotpelz könne es sich anders überlegen und dableiben. Außerdem war es schlimm genug, mit Pevyk einen Narren im Auge zu behalten.
»Hätte dieser dunkle Schamane tatsächlich die Geister der Stadt erwecken können?«, fragte Rikkinen, als Surg verschwunden war »Er behauptete nämlich, es habe auch Nivesen in der Stadt gegeben.«
Starna sah ihn betroffen an. »Es ist ein Gräuel, Tote zu erwecken. Aber ich finde es ebenso schrecklich, wenn Seelen der Weg zu den Himmelswölfen versperrt bleibt. Yassi hat darüber mit mir gesprochen.
Die Ränke des Überzähligen sind durchtrieben. Aber auch die Gottwölfe legen Faden auf Faden, um damit zu wirken. Der Fluch wurde vor langen Jahren ausgesprochen und bekräftigt. Doch Liska ist gnädig. Vielleicht kann sie helfen, wenn die Schmach getilgt ist, die dem Land angetan wurde, und die Spuren der Menschen verschwunden sind.«
Starna nickte bekräftigend. »Zumindest habe ich die Seele des Bärenschamanen in die Ewiggrüne Ebene geleitet und seinen Leib in der Stadt verbrannt. Irgendwann werden die Häuser dort Wind und Regen und Schnee nicht länger standhalten. Vielleicht finden die Seelen der Verstorbenen dann endlich ihren Frieden!«
Rikkinen dachte träge darüber nach, dass sie einer genauen Antwort auf seine Frage ausgewichen war, aber er wollte eigentlich auch nichts mehr von den Geheimnissen der Schamanen wissen.
Einige Augenblicke herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann spürte Rikkinen die Wirkung des Tees. Er musste austreten.
»Ka... kann ich bitte meine Hose haben?«, fragte er verlegen. Seine Wunde an der Leiste konnte nur Starna behandelt haben, und bei dem Gedanken, dass sie ihn so völlig nackt gesehen hatte, wurde er rot.
Zu seinem Erstaunen lag auch auf ihren Wangen ein rosiger Schimmer. Sie drückte ihm seine Kleidungsstücke in die Hand. Obenauf lag der Gürtel. Das Leder war an einer Stelle eingerissen, und es fehlte eine ganze Reihe Perlen, wo der Gürtel durchlöchert war wie von Zähnen.
Starna wies auf die Löcher. »Es tut mir Leid; das war ich, als ich dich fortgezogen habe. Zu dieser Zeit hatte ich doch nur meine Wolfszähne ... Später haben wir dich an dem Gürtel auch aus dem Wasser geborgen.«
Sekjeras Gürtel. Tränen der Rührung schossen Rikkinen in die Augen. Es war ihr Hochzeitsgeschenk für ihn. Es sah so aus, als hätte dieser Gürtel ihm mindestens einmal das Leben gerettet. Das musste er ihr unbedingt erzählen. Zuhause.
Starna leerte hastig ihren Becher und musterte Rikkinen. »Sobald es dir besser geht, können wir zu unseren Leuten stoßen. Sie haben sicher längst die Wanderung zu den Sommerweiden beendet.«
Als sie an die Heimkehr dachte, wurde ihr das Herz schwer. Wie würden die lyamit auf den veränderten Pevyk reagieren? Der Anblick des zerlumpten Pevyk in seiner kindlichen Hilflosigkeit schnitt Starna ins Herz. Aber sie wusste, dass er gefährlich war und sie immer wachsam sein musste. Pevyk war nicht besessen, es gab keinen Geist auszutreiben, das hatte sie bereits festgestellt. Es machte eher den Eindruck, als habe sich der Überzählige zu lange an Pevyks Seele genährt und als würden Gespenster in den leeren Lücken seines Geistes hausen.
Pevyk hatte Schreckliches getan, aus Kummer über Ya-lunkas Tod. Und er hatte Schreckliches erlitten, als sich der böse Geist in seine Seele fraß. Und nun vermochte er das eine nicht mehr vom anderen zu trennen.
Vielleicht würde der Umgang mit vertrauten Menschen die Löcher in Pevyks Seele füllen.
Vielleicht musste Starna aber auch mit dem Pevyk leben lernen, den sie zurückgebracht hatte. Genauso, wie Rikkinen mit dem Erbe Madas leben musste. Es war eine Bürde, aber viele Nivesen stammten auf die ein oder andere Weise von Mada ab. In ihrer eigenen Sippe gab es eine Frau, Ro-ika, die Madas Zeichen in der Hand trug. Roika wollte aus diesem Grund keine Kinder bekommen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass ihr Geliebter, ein Nivese aus einem anderen Stamm, sie vor vielen Jahren schon verlassen hatte. »Du siehst erschöpft aus«, meinte Rikkinen und riss sie in die Gegenwart zurück. »Aber wenn du bereit zur Wanderung bist, bin ich es auch!«
Starna verzog das Gesicht. Sie erinnerte sich gut genug an ihre erste Begegnung mit Rikkinen und den damaligen Wortwechsel.
»Ich bin taufrisch«, sagte sie. »Und auch Goldglanz ist schon ganz ungeduldig.« Liskas Geschenk für sie alle.
Der goldene Welpe an Rikkinens Seite war eingeschlafen. Seine Beine zuckten, als er Traumkaninchen jagte.