Скрипториум Авентурис

9. Kapitel

Am nächsten Morgen stiegen Starna und Rikkinen beim ersten Tageslicht aus dem Wagen. Die klare Morgenluft reinigte Starnas Nase von dem Geruch der abgezogenen Wolfsfelle. Was sie empfunden hatte, war mehr ein Widerwille als ein wirklicher Gestank gewesen, trotzdem atmete sie die frische Luft tief ein und fühlte sich dabei besser.

Sie frühstückten im Stehen einige Stücke faseriges Trockenfleisch und suchten dann beide nach Spuren. Das Wetter war ihnen gewogen.

»Sicher haben die Himmelswölfe gestern Nacht den Frost geschickt«, sagte Starna zu Rikkinen. Der kniete beim Wagen und fegte mit der Hand körnigen Schnee von der Spur.

»Wie es aussieht, ist der Neuschnee durch den Nachtfrost locker geblieben«, murmelte er vor sich hin und ging nicht näher auf ihre Bemerkung über die Himmelswölfe ein.

Starna umrundete den Wagen und machte eine Entdeckung. Die vordere Wagenachse war gebrochen, ein Rad lag zersplittert daneben. Bei den Norbarden hatte sie erlebt, dass Fahrten im Gelände nur langsam und mühsam vorangingen. Da reichte eine versteckte Baumwurzel aus, um den Wagenzug für Stunden aufzuhalten.

Als Starna den Schnee beiseite wischte, sah sie eine parallele Spur, die von der Unglücksstelle fortführte. »Die Wagenachse ist gebrochen«, erklärte sie laut, damit der Hekkla mithören konnte. »Aber sie haben alles in eine zweite Ka-leschka umgeladen und sind weitergefahren.«

Rikkinen hatte das norbardische Fahrzeug von der anderen Seite her untersucht und kam herbei. Er schüttelte den Kopf und deutete auf die Fahrrillen, die Starna entdeckt hatte. »Nein«, sagte er. »Das ist die alte Spur der Räder. Sie liegt tiefer, und der Rand ist ausgefranst wie eine alte Felldecke. Der Wagen fuhr auf gleichem Weg hin wie zurück.«

Nun wies er jenseits der Wagenspur auf eine andere Fährte. »Mehrere Leute. Hier standen mindestens drei Pferde, vielleicht vier. Sie haben tiefe Spuren hinterlassen. Zwei davon könnten beladene Zugtiere sein. Sie sind in Richtung Oblomon gezogen.«

Starna betrachtete die Fährte genauer. Sie hoffte, etwas zu finden, das Rikkinens Deutung widersprach. Doch sie las die gleichen Dinge aus dem Schnee wie der Hekkla und ärgerte sich. Im Fährtenlesen war sie wirklich nicht sehr gut. Sie hatte die zweite Fährte zuerst gesehen. Wenn sie die Spur gleich richtig gedeutet hätte, dann wäre sie Rikkinen einen Schritt voraus gewesen. Ich bin Schamanin und keine Jägerin, tröstete sie sich.

Die Enttäuschung blieb bestehen. Sie wünschte sich, dass Rikkinen nur einmal falsch lag. Seine Besserwisserei war schwer zu ertragen. Vor allem, wenn er Recht hatte!

Starna spitzte die Lippen und rief mit einem lang gezogenen Wolfslaut Dreikralle herbei. Vielleicht hatte der Wolf etwas herausgefunden. Das Jagdfieber kribbelte in ihren Beinen. Rikkinen badete in der roten Morgensonne, die den Schnee rosig einfärbte wie die Haut eines Neugeborenen. »Als ich gestern den verlassenen Wagen erreichte, war die Asche noch warm«, erklärte er. »Lange können sie diese Kaleschka also noch nicht aufgegeben haben. Der Schneesturm muss ihre Weiterreise behindert haben.«

Hoffentlich, dachte Starna. Sie wollte den Wolfsschlächtern am liebsten eigenhändig die Haut abziehen. Der Zorn über den Dieb und der Ärger über die verpatzte Deutung der Spur vermischten sich zu einem Groll. Sie wollte sich bewegen und die schlechte Laune zurücklassen.

Rikkinen wirkte ebenso ungeduldig. »Heute holen wir sie ein, wenn wir schnell sind. Aber dieser Weg führt nicht nur zur Straße, sondern auch am Winterlager der Hokke vorbei. Lass uns eilen, damit die uns nicht zuvorkommen und den Dieben unseren Welpen entreißen.«

Seine Rede kühlte Starnas Jagdfieber wieder ab. Es ging Rikkinen nur um den Ruhm. Das verbesserte weder ihre Laune, noch ihre Meinung über ihn.

Da kam Dreikralle im gestreckten Lauf auf sie zu. Sein Maul war blutig von der Jagd.

Die Jagd! Aufregung pulsierte durch Starnas Körper und für Sekunden verschmolz ihre Wahrnehmung scheinbar mit der des Wolfes. Flink wie der Wind über den Schnee jagen, die Beute aus dem Versteck scheuchen und sie stellen. Die Zähne in weiches Fleisch schlagen. Das Fell kitzelte ihre Nase. Warmes Blut netzte ihren Gaumen.

Doch statt saftiger, frischer Beute schmeckte Starna nur die faden Reste des geräucherten Fleisches im Mund. Dreikralle fegte über den Schnee an ihr vorbei.

Rikkinen hatte seinen Packen schon auf dem Rücken und war ein Stück vorausgegangen.

Starna eilte den beiden hinterher, die Packtaschen über die Schulter geworfen. Irgendwie tat Rikkinen ihr jetzt Leid. Er würde die Freiheit des Wolfs und den Rausch der Verwandlung nie am eigenen Leib erleben.

Rikkinen hatte sich geirrt. Die Diebe hielten den Vorsprung beharrlich. Vielleicht waren sie während der Nacht weitergereist, um die Zeit aufzuholen, die sie durch den Schneesturm verloren hatten.

Rikkinen stapfte durch den angetauten Schnee und grübelte vor sich hin. Hätten Starna und er gestern Abend besser nach den Spuren suchen und weitermarschieren sollen?

Doch er war erschöpft gewesen, und auch die Schamanin hatte dunkle Schatten unter den Augen gehabt, von ihrer Nachtwache bei Rejko. Allzu leicht hätten sie die Spur im Schneefall verlieren können. Das Madamal rundete sich zwar, aber gestern war es von Wolken verdeckt gewesen, die noch mehr Schnee in ihren dicken Bäuchen trugen.

Dafür erschwerte heute die Sonne seine Aufgabe. Nach der kalten Nacht war es deutlich wärmer geworden, und an den feuchten Stellen taute nicht nur der Deckschnee ab, sondern auch die Schneeschicht, in der die Pferdehufe eingedrückt waren. Wasser stand in Pfützen über dem noch gefrorenen Boden und fraß den Schnee weiträumig fort. Und je näher sie dem Oblomon kamen, desto feuchter wurde das Land.

Die Schamanin zog bereits ein finsteres Gesicht. Sie sollte nicht so häufig die Stirn runzeln, dachte Rikkinen spöttisch, das Muster auf ihrer Stirn zerfasert dabei immer so.

»Haben die lyamit Furcht, sich nasse Füße zu holen?«, bemerkte er, als Starna missmutig über eine Pfütze sprang.

Starna machte eine abwehrende Geste, die einen ganzen Mückenschwarm verscheuchte, der um ihre Schultern sirr-te. »Wieso haben wir die Pferde noch nicht eingeholt? Haben sie etwa Flügel wie diese Mücken?«

»Wir kommen zu langsam voran«, sagte Rikkinen und bedachte Starna dabei mit einem Blick, als sei sie dafür verantwortlich. »Die Hügellandschaft bei der Handelsstraße wird die Diebe bestimmt behindern. Und sie müssen auch einmal ausruhen.«

Rikkinen kannte die Gegend wie seinen bestickten Perlengürtel. Die Wanderung der Karene brachte sie alljährlich zweimal durch dieses Gebiet.

»Mögen die geflügelten Plagegeister die Diebe aussaugen, so wie sie sich bei der Wanderung an den Karenen mästen.« Starna gab ein Geräusch von sich, als würde sie einen Mund voller Mücken ausspucken. Daraufhin blieb sie stehen und nahm eine Holzschachtel aus ihrem Gepäck.

»Geflügelte Plagegeister? - Ich dachte, ihr Schamanen kennt euch mit den Geistern aus«, stichelte Rikkinen.

Starna blinzelte ihn wütend an, während sie ihre Wangen mit einer Kräutersalbe einrieb, deren starker Geruch die Blutsauger auf Abstand hielt. »Geflügelte Plagegeister, so heißen bei den Jänak die Mücken. Yas... ein Südländer, den ich auf der Reise getroffen habe, hat sie immer so genannt.«

Rikkinen bemerkte, wie sich ihr Gesicht verdüsterte. Aus reiner Neugier fragte er: »Du bist bei der Suche nach deinem Volk bis in die Südlande gekommen?«

Starna schüttelte den Kopf in einer wiegenden Weise, als würde sie damit Garn aufhaspeln. »Nein, der Südländer kam zu mir.« Dann verschloss sie die Lippen, sodass nicht einmal eine Mücke hineingelangte.

Stumm bot sie Rikkinen die Salbenschachtel an, und er verteilte ebenfalls etwas Salbe auf seiner Stirn. Da kehrte Dreikralle von einem seiner Ausflüge zurück. Er lief neben Rikkinen her, und dieser hielt dem Wolf die Hand mit der Salbe direkt vor die Nase.

Dreikralle nieste und machte einen Rückzieher

»Pass auf, dass er dich nicht einmal dafür beißt«, warnte Starna.

Aber der Wolf drehte sich nur um und starrte Rikkinen an. Beim Anblick des immer noch blutverschmierten Fangs lief dem Jäger eine Gänsehaut über den Rücken.

»Tut mir Leid«, stotterte er, als würde Dreikralle ihn verstehen.

Der Wolf schritt steifbeinig davon.

Dieser Gang allein weckte in Rikkinen unliebsame Erinnerungen an seine Begegnung mit dem Wolfsrudel. Nur dass Dreikralle es nebenbei noch schaffte, ihn anzusehen wie Rejko, wenn Rikkinen wieder einmal etwas falsch gemacht hatte.

Jetzt vergleiche ich den Pelzkopf schon mit Vater! Ich bin zu lange mit dieser Schamanin zusammen, die die Wölfe wie ihresgleichen behandelt!

Der Boden wurde feucht, der Schnee weich. Die Spur führte sie nach zwei weiteren Tagen bis zur Straße. Dort verloren sich die Hufabdrücke in einem Durcheinander aus Wagenspuren, Menschentritten und Tierfährten.

Rikkinen stand mit geballten Fäusten da.

Er hatte nicht erwartet, dass auf der Route bereits so viele Reisende unterwegs waren. Seit dem Schneesturm, dem letzten Aufbäumen des Winters, hatte der Frühling seinen Siegeszug angetreten. Es wurde wärmer. An geschützten Stellen lag zwar noch tiefer Schnee, aber der Wind blies deutlich milder und die Luft trug einen Duft von neu erwachendem Leben.

Damit hatte aber auch der Betrieb auf der Straße zugenommen. Jäger und Goldsucher, Händler und Norbarden nutzten die ersten milderen Tage. Denn solange der Boden nachts noch gefroren war, war das Vorankommen tagsüber leichter. Jeder wollte der Erste sein, der reiste, denn schon die Nachhut musste sich mit den durchweichten Straßen herumschlagen. Und mit den Mücken, die in Heerscharen in die Gebiete längs der Flüsse einfielen.

»Wo ist dieser Wolf? Jetzt, wo ich seine Nase brauche, ist er wieder einmal verschwunden!« Rikkinen fuhr Starna an, als sei sie für Dreikralles Verschwinden verantwortlich. Es tat ihm gut, seiner Enttäuschung auf diese Weise Luft zu machen.

Aber Starna funkelte ihn nur streitlustig an: »Der Wolf ist sein eigener Herr und nicht dein Sklave. Du brauchst einen Steppenhund für die Suche? Warum hast du keinen mitgenommen!«

Jetzt ärgerte sich Rikkinen zweifach. Er hasste es, abhängig zu sein. Aber hier war er nun mal auf Dreikralles Spürnase angewiesen, um die Spur vielleicht wieder aufzunehmen. Wenn der Wolf denn käme.

»Die Pferdespuren sind fort. Ich kann nicht sagen, ob der Dieb nach Osten oder Westen geritten ist.« Rikkinen suchte sich einen felsigen Flecken und stellte sich dorthin.

»Und jetzt?«, wollte Starna wissen.

»Ich warte nun auf Dreikralle!«, stieß Rikkinen hervor.

»Hast du nicht gesagt, dass die Diebe nach Riva wollen?« »Ich vermute es. Aber ich kann keine Geister befragen, wohin der Welpe verschwunden ist.« Rikkinen spie den Satz aus wie kalt gewordenen Tee.

Zufrieden beobachtete er, wie sich Starnas Miene verdüsterte. Doch ihre Antwort überraschte ihn. »Du hast Recht, Hekkla. Das sollte ich tun.« Starna bog in Richtung Wald ab und ließ ihn einfach stehen. Rikkinens Stolz verbot ihm, ihr eine Frage hinterherzurufen. Er war ein Mann und hing nicht am Anaurak der Schamanin wie ein unreifes Kind.

»Gut«, brummte er, »wenn alle eigener Wege gehen, dann kann ich mir wohl eine Pause gönnen.«

Als die Schamanin der lyamit eine ganze Weile später wieder aus dem Wald kam, hatte Rikkinen das Trockenfleisch und die eingekochte Gemüsepaste längst verzehrt.

Starna machte einen bedrückten Eindruck. Wortlos ließ sie sich neben ihm auf dem trockenen Flecken nieder. Sie roch nach Kräutern und Rauch.

»Hast du Dreikralle nicht gefunden?« Rikkinen wusste, dass Schamanen mit einem Ritual alle Wölfe der Umgebung herbeirufen konnten. Aber er sah nirgendwo auch nur die Schwanzspitze eines Rauhwolfes.

Starna antwortete nicht, sondern starrte auf ihre Stiefel.

»Übrigens ist mein Proviant zu Ende. Wir sollten daran denken, unsere Vorräte aufzustocken. Ich könnte auf die Jagd gehen«, merkte Rikkinen beiläufig an.

Starna bewegte sich wie eine mit Heu ausgestopfte Lederpuppe. »Du hast Recht. Auch meine Vorräte sind verbraucht.« Sie sah müde aus.

Rikkinen erinnerte sich daran, dass er sie gestern Morgen das letzte Mal hatte essen sehen. Hatte sie etwa seitdem gefastet? Weshalb hast du so wenig Vorräte mitgenommen?, wollte Rikkinen höhnisch fragen. Dann stutzte er. Er war genauso wenig auf eine lange Verfolgung eingerichtet.

»Warum hast du nichts davon erzählt? Du hast heute keinen Krümel gegessen. Wir sind ein Jagdtrupp, ich hätte mein Fleisch mit dir geteilt.«

Starna schaute auf, und ihre Wangen röteten sich. »Schamanen fasten oft, für Rituale und um die Geister zu ehren.« Sie senkte den Kopf. »Aber heute waren die Geister nicht willig.«

»Was hast du getan?«, wollte Rikkinen wissen. Halb erwartete er, dass sie ihn nur mit einer beiläufigen Erklärung abspeiste, wie es Rejko immer tat, wenn es um die Belange der Schamanen ging.

»Ich habe einen Windgeist gerufen und ihn nach dem Welpen gefragt«, antwortete Starna. Sie klang immer noch niedergeschlagen. »Doch der Geist kam und kam lange nicht, und als er endlich erschienen war, da zeigte er mir nur Nebel.«

Das verschlug auch Rikkinen die Sprache. Ich dachte, Schamanen würden die Geister beherrschen. Aber wenn selbst die Geister nicht wissen, wo der Welpe ist, wie sollen wir Menschen ihn dann finden? »Ich gehe auf die Suche nach Wild«, meinte er und erhob sich.

»Warte«, bat Starna. »Wir haben keine Vereinbarung mit den Wölfen hier. Eine Jagd in ihrem Revier könnte sie verärgern.«

»Aber wir müssen etwas essen. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen! Immerhin macht sich der Pelzkopf immer noch rar.«

Starna zuckte die Achseln, und Rikkinen nahm seine Waffen aus dem Gepäck.

»Halt - ich habe eine Idee«, rief Starna und zeigte auf eine Gruppe Reisender, die sich über die Straße näherten. Ihr Gesicht leuchtete voller Hoffnung auf. »Vielleicht geben diese Leute uns von ihrem Proviant ab. Bei den Jänak kann man alles bekommen, auch Essen.« Im selben Moment aber schlug sie die Augen nieder. »Nein, die Jänak wollen nur gegen Metallscheiben tauschen. Gegen Geld.«

»Und?«, wollte Rikkinen wissen.

»Wir haben kein Geld. Aber vielleicht...« Starna klappte eilig ihre Taschen auf und wühlte darin herum.

Nun, als Rikkinen einen Blick hineinwerfen konnte, verstand er, warum Starna so wenig Vorräte dabei gehabt hatte.

Die Packtaschen der Nivesin waren zusammen viel kleiner als seine Rückentrage. Und darin befanden sich Tiegel und Töpfchen, Kräutersäckchen, farbige Geweihstücke und anderes. Starnas Trommel und ihre Felldecke nahmen allein schon eine Tasche ein.

Mit einem triumphierenden Laut hielt Starna nun die Holzschachtel mit der Mückensalbe hoch. »Jänak fürchten die Mücken mehr als die Nivesen. Vielleicht kann ich mit ihnen um Essen verhandeln.«

Nun war es an Rikkinen, sich den Nacken zu kratzen und abzuwarten. Starna wusste nicht, dass er eine Weile mit anderen Jänak durch das Nordland gezogen war. Sie sprachen seine Zunge, aber ebenso hatte er ein paar Worte ihrer Sprache gelernt. Und auch so einiges über ihre Bräuche erfahren.

Aber warum sollte er sich die Mühe machen, mit den Leuten zu verhandeln, wenn Starna sich geradezu darum drängte?

Starna wartete ungeduldig, bis die Reisegruppe herangekommen war. Es waren sieben Leute, die Männer bärtig und mit Hüten, die Frauen mit verwegenem Ausdruck in den Gesichtern, die unter dicken Mützen hervorguckten. Die Reisenden waren zweckmäßig angezogen und hatten eine Menge Gepäck dabei.

Jeder führte ein hoch bepacktes Tier, wie Starna es noch nicht gesehen hatte. Graubraun, etwa so groß wie ein Karen, doch ohne Gehörn. Anstelle der Hörner besaßen die Packtiere ausladende, lange Ohren. Ein seltsamer Anblick. Die Tiere verschwanden beinahe unter dem Haufen von Paketen, Säcken und sperrigen Werkzeugen auf ihrem Rücken. Seitlich baumelten flache Metalltöpfe, Siebe schlugen auf der anderen Seite gegen die Flanke der stämmigen Tiere.

Als die Gruppe vorbeikam, sprach Starna den vordersten der Reisenden an: »Die Himmelswölfe seien mit euch.«

Sie versuchte, das Garethi zu benutzen, das sie damals von Yassi gelernt hatte. Aber für manche Ausdrücke kannte sie die Übersetzung einfach nicht. Der Gruß schien allerdings zu genügen, denn der Mann hielt an und nötigte auch sein Packtier zum Stillstand.

»Was gibt es?«, brummte er und schielte Starna unter halb geschlossenen Augenlidern an.

Starna schluckte ob des barschen Tonfalls. »Ich will mit euch handeln.«

»Hast du etwa Gold?«, rief eine der Frauen von hinten und einige lachten.

»Hör zu, wir ham alles, was wir brauchen. Nun pack dich«, murmelte der Anführer.

Starna wies auf die Mücken. »Ich kann euch einen Schutz gegen die geflügelten Plagegeister anbieten«, sagte sie.

Der Mann schob sich den Hut aus dem Gesicht. »Häh?«

Die Frau von vorhin drängte sich durch die Herde der Menschen und ihrer fremdartigen Tiere. »Ich glaube, sie meint die Mückenbiester«, erklärte sie.

Starna nickte.

»Ich habe eine Zaubersalbe, die jede Mücke vertreibt. Ich gebe sie dir gegen frischen Proviant für einen Tag und zwei Portionen Trockenfleisch. Für zwei Leute!«

Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und klopfte einem der Tiere den wolligen Hals. »Ich hab noch frisches Zeug, aber mein Trockenfleisch gebe ich nicht her. Das brauch ich, denn wir sind unterwegs nach ...«

»Nimla, das genügt«, unterbrach sie der Mann mit den hängenden Augenlidern. »Musst nicht jedem unser Steckland auf die Nase binden.« Der Anführer zerrte unwillig am Halfter des Tieres und klagte ihm leise schimpfend sein Leid. »Manchmal isse dumm wie ein Maulesel!«

»Schon gut, Alter. Ich verrat schon keinem deinen Schatz. Jetzt lass mich in Ruhe den Handel machen«, erwiderte Nimla und tat, als hätte sie die Beschimpfung überhört.

Sie zog Starna am Arm zu ihrem Packtier. Dort schob sie einige Gepäckstücke beiseite und zerrte dann einen fettigen Packen aus der Satteltasche.

»Hier«, sagte sie. »Ich hab was für zwei Tage, wenn ihr sparsam seid. Da is Brot, bisschen altbacken, aber noch in Ordnung. Und eine halbe Wurst, die gibt es noch dazu. Ach ja«, sie wühlte tiefer in der Tasche, »die Zwiebeln kriegste auch. Muss davon sowieso immer nur furzen.«

Starna nickte und stapelte den Proviant in die linke Armbeuge. Mit der Rechten reichte sie der Frau die Holzschachtel. »Du reibst dich damit ein und die Mücken bleiben einen Tag lang fern«, erklärte sie.

Neugierig beäugte die Fremde Starnas Amulette und ihre reich geschmückte Schamanenkeule am Gürtel. »Bist du eine Zauberin der Karentreiber?«

Innerlich seufzte Starna. Yassi hatte auch nie verstanden, was eine Schamanin eigentlich war. Sie nickte der Einfachheit halber zur Antwort und wollte sich gerade abwenden. Da kam ihr noch eine Idee: »Wie lange seid ihr schon unterwegs?«

»Nen paar Tage den Oblomon lang«, sagte Nimla und äugte zur Spitze des Zuges, ob der Anführer sie belauschte.

»Habt ihr eine Gruppe getroffen, die mehrere Pferde dabei hatte und einen - einen kleinen Hund?« Wenn Rik-kinen richtig lag, dann hatte der Dieb nicht viel Vorsprung. »Es könnte gestern oder heute gewesen sein, der Wo... Welpe wird vielleicht getragen oder steckt in einem Käfig. Er hat ein helles, leuchtendes Fell, fast wie Gold!«

Nimla lachte wieder mit rauer Stimme. »Ein goldenes Fell? Na, das wär uns bestimmt aufgefallen. Nein, so einen Hund haben wir nicht gesehen.«

Der Anführer wurde ungeduldig. »Jetzt mach voran! Wir haben heute noch ein gutes Stück Weg vor uns.« Sein Packtier stieß einen misstönenden Laut aus, und Starna zuckte zusammen.

liihja! Iot öt öööt!

Es klang schlimmer als eine quietschende Winde.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Nimla brachte hastig ihr Gepäck in Ordnung und eilte hinterdrein.

»Viel Glück bei der Suche und wünsch mir eine gute Pfanne voll, Zauberin!«, rief sie zum Abschied.

Starna grüßte zurück und fragte sich, warum sich die Frau eine Pfanne voller Essen wünschte, wenn sie doch so viele Vorräte dabei hatte, dass sie davon abgeben konnte.

Rikkinen war mit der Ausbeute nicht besonders zufrieden und auch nicht mit Starnas Versuchen, die Fremden auszufragen.

»Das waren Goldsucher. Die haben wenig anderes im Sinn, als nach dem gelben Metall zu wühlen«, meinte er verächtlich. Rikkinen war Trupps wie diesen häufiger begegnet und kannte die Fremden als misstrauische und zurückhaltende Gesellen. »Die würden dir nichts verraten -oder alles Mögliche erzählen, um dich loszuwerden.«

Die Goldsucher lebten in ständiger Angst, jemand könnte ihre Schätze entwenden oder bei der Suche nach einem guten Platz schneller sein als sie.

Rikkinen wurde deutlicher. »Außerdem war es ein großes Risiko. Willst du nun auch noch die Jänak auf die Spur des Welpen führen?«

»Diese Leute waren nicht an Goldglanz interessiert«, verteidigte sich Starna. »Du selbst hast gesagt, sie suchen nur das gelbe Metall. Und wenn wir nichts tun, stehen wir heute Abend immer noch hier! Wir müssen uns für eine Richtung entscheiden.«

Gut, denk nach, Rik. Vielleicht hatten die Reisenden den Dieb nicht gesehen. Vielleicht aber hatten er und seine Kumpane sich an ihnen und den lärmenden Mauleseln vorbeigeschlichen. Andererseits konnte es ebenso gut möglich sein, dass der Wolfsdieb doch nicht Richtung Küste gereist war. Immerhin war auch Gordask im Osten ein bekannter Umschlagplatz.

»Außerdem habe ich für uns etwas zu essen besorgt!«, beendete Starna das Gespräch und Rikkinens Vorhaltungen.

In dieser Hinsicht musste Rikkinen der Schamanin Recht geben, selbst wenn es bedeutete, zwei Tage geröstetes Brot mit Zwiebel zu essen. Jagen kostete viel Zeit.

»Gut, wir gehen nach Gordask«, lenkte er ein. »Aber warte noch ein wenig, sonst denken die Goldsucher, wir würden ihnen folgen, um ihre Geheimnisse auszukundschaften.« Auf den Ärger konnte Rikkinen gut verzichten.

Dreikralle holte sie mühelos ein, während sie auf der Straße wanderten. Rikkinen beschimpfte den Wolf, doch dieser trabte nur an ihm vorbei und schnappte dabei verspielt nach dem Zipfel von Rikkinens Anaurak.

An diesem Tag kamen ihnen keine Reisenden mehr entgegen. Zwei Mal wurden sie von Reitern überholt, aber die hielten nicht an, um zu reden.

Ein Stück abseits der Straße lagerten sie für die Nacht. Starna zog zwei Fische aus einem der Seen zwischen Fluss und Straße. Es waren trächtige Salme, und die beiden Ni-vesen ließen sich die würzigen Eier als besonderen Leckerbissen auf dem eingetauschten Brot schmecken.

Rikkinen warf noch eine Hand voll Gras auf das Lagerfeuer, damit die dichten Rauchschwaden die Mücken auf Abstand hielten, und verzehrte den letzten Bissen Brot. Obwohl er nicht den Eindruck hatte, dass sie ihrem Ziel näher kamen, fühlte er sich bei der ziellosen Wanderung doch merkwürdig gelassen.

Es war keine einsame Reise, wie er gedacht hatte. Neben ihm saß eine Schamanin der ehrlosen lyamit und gegenüber ein Wolf - kaum die Gefährten seiner Wahl. Doch an die Gegenwart des Pelzkopfes hatte sich Rikkinen schon so gewöhnt, dass er beim Wandern unwillkürlich nach seiner gedrungenen Gestalt Ausschau hielt. Und die Schamanin, auch wenn sie eine grauenhafte Fährtenleserin war, brachte zumindest Essen ins Lager.

Nach den wenigen Tagen, die sie gemeinsam verbracht hatten, fühlte sich Rikkinen schon so unbefangen in dieser Gesellschaft, dass er sich nach dem Grund dafür fragte. Er dachte an das Winterlager der Hekkla zurück. Die drückende Luft in den überheizten Jurten, die Eifersüchteleien und Streitigkeiten in der Sippe, der die Sonne und die Freiheit fehlte ...

Dort spürte er oft eine unsichtbare Last, eine seltsame Distanz. Dann kam es ihm manchmal so vor, als hielten ihn die anderen Hekkla bewusst auf Abstand, als hätte er ein Verbrechen begangen.

Nur Sekjera war anders und ...

Rikkinen stöhnte vernehmlich.

Starna schaute alarmiert hoch, doch er winkte müde ab.

Kerjuk. Wie konnte ich nur Kerjuk vergessen?, überlegte er und die Pein brandete dabei erst richtig auf. Seit Tagen hatte er nicht mehr an seinen Sohn gedacht.

Das unbeschwerte Gefühl flaute so rasch ab, wie es aufgekommen war. Rikkinen stierte in die Flammen.

Als er das leise Winseln von Dreikralle neben sich hörte, warf er ihm den abgenagten Fischkopf zwischen die ausgestreckten Pfoten. Doch der Wolf rümpfte nur die Nase und schob sich weg.

Für die Dauer eines Herzschlags glaubte Rikkinen, dass der Wolf ihn hatte trösten wollen. Er ist nur ein Tier - und wie sollte er wissen, dass ich an Kerjuk gedacht habe?

Und so schob er die Glut mit einem Stock zusammen und brütete weiter über das ungerechte Schicksal, das ihm die Himmelswölfe auferlegt hatten.